«Die Rückkehr des Wolfes bedroht unsere Weidewirtschaft.» Diesen Titel trägt die Wolfscharta, mit welcher die Grossraubtierkommission des Kantons Glarus Ende April an die Öffentlichkeit getreten ist. Kommissionsmitglied André Siegenthaler nimmt im Interview Stellung zur Charta und zur Wolfssituation im Kanton.
Herr Siegenthaler, der Start der Alpsaison steht bald bevor. Wie ist die Gefühlslage bei den Nutztierhaltern?
André Siegenthaler: Es herrscht ein mulmiges Gefühl. Ich würde sagen, die Sorge um die Nutztiere ist grösser als vor dem letzten Alpsommer. Es gab zwar Abschüsse beim Kärpfrudel im Winter, aber an der Ausgangslage hat sich nichts verändert. Die letztjährigen Nachkommen jagen dieses Jahr auch mit.
Erst vor zehn Tagen ist eine Mutterkuhherde ausgebrochen. Die einzig plausible Erklärung ist ein Wolf als Auslöser. Das Erschreckende ist, dass sich der Bauer anfänglich nicht bei der Fachstelle Herdenschutz gemeldet hat. Er sagte, das nütze ja sowieso nichts. Und tatsächlich stellte der Jagdverwalter die Version des Bauern in Frage.
«Diese Realitätsverweigerung schafft kein Vertrauen. Wären die Wölfe besendert, hätten wir Klarheit.»
André Siegenthaler kritisiert die Arbeit der Jagdverwaltung
Dazu gibt es ja auch einen politischen Vorstoss. Im April wurde im Glarner Kantonsparlament eine Motion eingereicht, die eine Besenderung der Wölfe fordert.
Die Kommission Grossraubtiere unterstützt diese Motion, wie übrigens Politiker von links bis rechts. Grossraubtiere sollen aktiv vergrämt werden, wenn sie sich in Siedlungsnähe zeigen oder Schäden an Nutztieren drohen. Dazu müssen die Wölfe besendert werden.
Hier geht's zur Motion im Wortlaut
Hat sich die Zusammenarbeit mit den Behörden nicht verbessert?
Nein, ich würde sagen, sie ist eher schlechter geworden. Im Dezember deponierte der Glarner Bauernverbandspräsident Fritz Waldvogel beim zuständigen Regierungsrat das Anliegen, dass die Bauern über Massnahmen seitens Jagdverwaltung zur Unterstützung der Alpwirtschaft im kommenden Sommer reden wollen. Der Regierungsrat verwies auf einen runden Tisch mit den Umweltverbänden, bei dem aber nicht über konkrete Massnahmen geredet werden sollte. Das ist es aber, was Not tut.
Wir erwarten vom zuständigen Regierungsrat Kaspar Becker konkrete Lösungsvorschläge und Massnahmen. Aus meiner Sicht müsste das Dossier Wolfsschutz vom Umweltdepartament ins Sicherheitsdepartement übertragen werden. Es geht ja nicht nur um den Schutz unserer Nutztiere, sondern auch um den Schutz der Bevölkerung vor dem Wolf.
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Was müsste sich auf kommunikativer Ebene ändern?
Ein Treffen zwischen Jagdverwaltung, Bauernverband und dem Herdenschutz, wo die Probleme diskutiert und konkrete Lösungen aufzeigt werden, ist dringend nötig. Wenn der Regierungsrat nicht in der Lage ist, zu vermitteln, braucht es eben einen externen Moderator. Der Herdenschutz im Glarnerland ist im letzten Alpsommer an seine Grenzen gekommen.
«Obwohl die Situation so prekär war, waren während der Hochsaison zwei oder drei von vier Wildhütern sowie der Jagdverwalter in den Ferien.»
André Siegenthaler findet, der Ernst der Lage werde nicht erkannt.
Diese Ignoranz hinterlässt bei den betroffenen Bäuerinnen und Bauern Wut.
Das revidierte Jagdgesetz ist beschlossene Sache, ein Referendum kam nicht zustande. Trotzdem lanciert die Fachkommission Grossraubtiere eine Wolfscharta. Aus welchem Grund?
Die Charta ist ein Manifest der Würde. Es geht um die Grundsatzfrage, ob die Glarner Bevölkerung noch landwirtschaftlich bewirtschaftete Alpentäler will. Wir wollen erreichen, dass die Leute sich nicht nur zum Wolf äussern, sondern auch Stellung beziehen zur Art und Weise des Lebens und Wirtschaftens in den Bergen und Tälern.
Unser Wunsch wäre, dass es vom Genfer- bis zum Bodensee eine solche Charta gibt und man sich genau diese Fragen stellt. Bekennen sich die Leute in diesem Land zur traditionsreichen und zukünftigen Alp- und Weidelandwirtschaft, wie sie seit Jahrhunderten gepflegt wird? Wird erkannt, dass ein ungebremstes Wachstum der Wolfspopulation – ohne ein striktes Management – die Alp- und Weidelandwirtschaft in der Schweiz zerstört? Im Kanton Glarus hat der Wind gedreht. Die Bevölkerung steht hinter der Landwirtschaft und deren Forderung nach einer Wolfsregulation. Letztes Jahr wurde eine entsprechende Petition mit über 3000 Unterschriften der Glarner Regierung übergeben.
Wie viele Wölfe verträgt es im Kanton Glarus?
Um die Genetik zu erhalten, reicht ein Wolfspaar und die Nachkommen könnten ausgesiedelt werden. Der Uetliberg und der Bachtel wären ideale Gebiete. Wenn man unbedingt ein Rudel à sechs bis zehn Tiere will, dann braucht es zu dessen Überwachung zwei Ranger. Deren Aufgabe wäre es, die Wölfe zu überwachen, mit Sendern, Drohnen oder was auch immer. Die technischen Möglichkeiten dazu gibt es. Auch die Hirten müssten für Notwehr und Verteidigung ausgerüstet werden. Und zur Nachbearbeitung von Vorfällen braucht es eine unabhängige Instanz, wie wir das vom Strafrecht kennen, inklusive Opferschutz.
Sie fordern in der Charta, dass die Glarner Regierung zukünftig das Wolfmanagement regelt. Wie stellen Sie sich das vor? Die Regierung ist ja an Bundesgesetz gebunden.
Am kantonalen Wolfsmanagement führt kein Weg vorbei. Mit dem Wolfsmanagement kann die Regierung bzw. die Wildhut oder Ranger die Nutztierhalter unterstützen, indem sie an den Hotspots präsent sind und die Wölfe vergrämen.
Unsere Regierung muss Verantwortung übernehmen, dies ist auch eines der Ziele unserer Wolfscharta. Wir erwarten, dass die kantonalen Politiker(innen) aller Parteien die Wolfscharta unterschreiben, weil sie sich ein Abseitsstehen nicht erlauben können. Kein(e) Verantwortungsträger(in) auf kommunaler, kantonaler und nationaler Ebene kann sich mehr aus der Verantwortung stehlen.