«Am 29. August haben Gänsegeier bei meinem Nachbarn ein neu geborenes Kalb einer Mutterkuh angefressen. Es wurde dermassen schlimm zugerichtet, dass es eingeschläfert werden musste», erzählt Silvan Caduff, Präsident des Bauernvereins Surselva und Landwirt in Morissen GR auf Anfrage der BauernZeitung.
Eigentlich Aasfresser
Am Morgen sei mit dem Kalb alles in Ordnung gewesen, dann sei die Mutter weiden gegangen und später habe man es vom Gänsegeier angefressen aufgefunden. Diesen Sommer habe es extrem viele Gänsegeier in der Region, teilweise würden die Vögel sicher auch angelockt, weil der Wolf ziemlich wüte, denn eigentlich sind Gänsegeier als Aasfresser bekannt.
«Ein Schafhirte hat auf einer Alp 70 Gänsegeier gezählt», sagt Silvan Caduff. Er befürchtet, dass die Vögel in Zukunft zu einem grossen Problem werden könnten für die Landwirte in der Region.
Anfrage an Regierung
«Der Vorfall mit dem Kalb hat mich sehr beschäftigt», sagt Thomas Roffler, der Bündner Bauernpräsident, auf Anfrage. «Man muss bedenken, wenn eine Mutterkuh ein Kalb verliert, hat der Bauer für dieses Jahr einen Totalausfall, denn es gibt erst im Jahr darauf wieder ein Kalb», sagt der SVP-Kantonsrat. Er hat deshalb bei der Bündner Regierung kürzlich eine Anfrage bezüglich des Gänsegeiers eingereicht. Er will unter anderem wissen, was die Regierung gegen das steigende Aufkommen des Gänsegeiers unternehme, ob er aktuelle Zahlen zur Population habe sowie welche Möglichkeiten der Kanton zur Regulation habe. Roffler sagt, er gehe davon aus, dieses Jahr noch eine Antwort zu erhalten.
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Atypisches Verhalten
Vom Fall des Kalbes im Val Lumnezia hat auch Livio Rey, Biologe an der Schweizerischen Vogelwarte, Kenntnis. Die Spuren am Kalb deuteten in der Tat darauf hin, dass ein Gänsegeier an dem Kalb gefressen habe. «Gänsegeier sind Aasfresser und keine Jäger. Sie sind also nicht darauf ausgerichtet, andere Tiere zu töten.» Dafür seien ihre Schnäbel und Krallen zu schwach.
Es könne zwar selten vorkommen, dass Gänsegeier sich auch an lebende Tiere wagten, dann handle es sich aber um verletzte, schwache oder kranke Tiere, weil diese sich nicht wehren könnten. Im aktuellen Fall aus Graubünden gibt es deshalb einige offene Fragen, wie zum Beispiel, warum die Mutterkuh das Kalb nicht verteidigt habe oder ob es krank gewesen sein könnte.
«Sehr effizient»
Die Gänsegeier, die gerne in Gruppen unterwegs sind, brüten nicht in der Schweiz, sie sind so genannte Nahrungsgäste und bleiben normalerweise von April bis Oktober. «Seit einem Wiederansiedlungsprojekt in Frankreich vor einigen Jahren ist der Gänsegeier in der Schweiz zu einem regelmässigen Gast geworden. Heuer gibt es auch in der Ostschweiz sehr viele Beobachtungen», sagt Livio Rey weiter. «Gänsegeier sind sehr effiziente Kadaververwerter», fasst er zusammen, gesunde Tiere seien daher normalerweise nicht betroffen. Fälle wie aktuell in Graubünden könnten aber bei neugeborenen, schwachen, kranken oder verletzten Tieren nicht ganz ausgeschlossen werden.
Der Gänsegeier in Kürze
Gänsegeier leben in Europa hauptsächlich in Südfrankreich und auf der iberischen Halbinsel.
Der Vogel, der zu den Habichtartigen gehört, hat viele Anpassungen, die ihn zu einem perfekten Kadaververwerter machen. Gänsegeier suchen systematisch ein Gebiet ab, ohne dabei Artgenossen oder kleinere Suchflieger wie Milane oder Kolkraben aus den Augen zu verlieren. So finden Gänsegeier viele Kadaver auch in strukturiertem Gelände in überraschend kurzer Zeit.
Sie werden 7,5 bis 11 kg schwer und haben eine Flügelspannweite von 2,3 bis 2,65 Metern.
Fressen Wolfsrisse auf
Dass Gänsegeier Kadaver in kurzer Zeit verwerten können, wirft einen weiteren Aspekt auf, der den Bauern Sorgen macht. Nämlich dass sie vom Wolf gerissene Tiere so schnell anfressen, dass die DNA-Spuren vernichtet sind oder es für die Wildhut überhaupt nicht mehr möglich ist, festzustellen, ob der Übeltäter wirklich ein Wolf gewesen ist. Dann bleibt nämlich auch die Entschädigung für den Tierhalter oder die Tierhalterin aus.
«Wir hatten kürzlich den Fall eines Rindes im Kanton, wo Gänsegeier den Kadaver extrem stark dezimiert haben», sagt Mathias Rüesch, Geschäftsführer des St. Galler Bauernverbands. «Nicht immer findet der Hirt den Kadaver vor dem Geier, denn dieser hat einen entscheidenden Vorteil: Er kann fliegen. Ausserdem ist es auch nicht immer möglich, den Kadaver wie gefordert mit einer Plastikplane abzudecken.»
«Da muss etwas gehen»
Rüesch hat deshalb kürzlich an der Konferenz der Leiter der Mitgliedsektionen (KOL) des Schweizer Bauernverbands auf das Problem aufmerksam gemacht. «Das ist ein nationales Problem, wir setzen da grosse Hoffnungen auf den Schweizer Bauernverband. Bei der Gänsegeier-Problematik muss etwas gehen.»