Kein anderer Kanton in der Schweiz hat so viel Erfahrung im Zusammenleben mit dem Wolf wie Graubünden. Nun macht sich bei den Landwirten Unmut breit, da sie sich in ihren Bemühungen, ihre Herden zu schützen, vom Bund unnötig eingeschränkt fühlen. Die Herdenschutzfachstelle des Kantons Graubünden ist am Plantahof. Dessen Direktor Peter Küchler erläutert im Interview, wo sich das Bündnerland und der Bund nicht einig sind und wo sie an einem Strick ziehen.

Laut Aussagen von Regierungsrat Marcus Caduff warteten im Februar mehrere Bündner Schafhalter vergeblich auf Herdenschutzhunde, um ihre Schafe zu schützen. Wie ist die Situation heute?

Peter Küchler: Herdenschutzhunde sollten weder auf Vorrat gezüchtet noch überstürzt eingesetzt werden. In diesem Sinne sind gewisse Verzögerungen vom ersten Antrag zur Haltung von Herdenschutzhunden bis zur Umsetzung nicht zu vermeiden. Aktuell ist die Situation so, dass einige Betriebe selbstständig vor allem aus dem Ausland Hunde organisiert haben. Sie werden folglich vom Bund weder finanziell noch fachlich unterstützt. Einzelne Betriebe erhielten kurz vor der Sömmerung noch Hunde, andere haben sich entschieden, erst im nächsten Winter und in Ruhe, Hunde zu integrieren. Uns sind aktuell elf Betriebe bekannt, die sich interessieren, aber noch keine Hunde auf ihrem Betrieb ein-setzen.

Gibt es aktuell Risse in Herden, weil diese Hunde fehlen?

Nein, auf den elf angesprochenen Betrieben gab es bisher keine Nutztierrisse. Es gab Risse in Herden mit Herdenschutzhunden, wo zu wenige Hunde im Einsatz stehen oder diese zu jung sind. Es gab auch Risse, weil Hundeteams zu wenig ausgebaut sind und im Einsatz noch nicht vielseitig genug agieren. Die Wolfspopulation wächst derzeit so viel schneller als die Anzahl der ausgebildeten und erfahrenen Herdenschutzhunde.

Wie läuft das Bewilligungsverfahren für einen vom Bund anerkannten Herdenschutzhund ab? Ist dieses Verfahren für die Praxis zu langsam?

Das Verfahren läuft koordiniert und seriös ab. Es beginnt mit der Analyse der Voraussetzungen auf dem Heimbetrieb und im Sömmerungsbetrieb sowie mit einer Eignungsabklärung bei den an der späteren Hundehaltung beteiligten Personen. Sind die Resultate all dieser obligatorischen Erhebungen positiv, werden frühestens im folgenden Winter schon ausgebildete und geprüfte Hunde platziert. Der administrative Aufwand ist für die Antragssteller zu gross und sollte aufgrund der zu erwartenden Antragsflut, auch zum Vorteil der Bewilligungs- und Kontrollinstanz, unbedingt reduziert werden können.

Ist bekannt, wie viele Schafhirten heute eigene Herdenschutzhunde einsetzten, die nicht offiziell anerkannt sind? Wie viele Tiere sind das und welchen Rassen gehören sie an?

Im Kanton Graubünden halten mindestens elf Betriebe nicht offiziell anerkannte Herdenschutzhunde unterschiedlicher Rassen inklusive Gebrauchskreuzungen. Die exakte Hundezahl ist uns nicht bekannt. Weitere fünf Betriebe halten Anatolische Hirtenhunde, welche sämtliche Zucht-, Einsatz- und Leistungsprüfungen bestanden haben und sich im Einsatz bewähren. Sie stünden seit längerem zu Zuchtzwecken bereit. Die Zucht läuft aber nicht an, weil der Nachwuchs vom Bund nicht anerkannt würde.

Die Schafhalter kritisieren das Monopol des Vereins Herdenschutzhunde Schweiz, der als einziger anerkannte Herdenschutzhunde züchten darf. Dieser erlaubt lediglich Tiere der Rassen Patou und Maremmano Abruzzese einzusetzen. Die Bündner Schafhalten möchten jedoch aufgrund ihrer Erfahrungen in der Praxis auch andere Rassen einsetzen. Welche Möglichkeiten hat der Kanton hier, seine Landwirte zu unterstützen? Wie sind die Signale vonseiten Bund bezüglich der Bewilligung neuer Rassen?

Die Argumente des Bundes bezüglich der Einschränkung der Anzahl Herdenschutzhunderassen wären aus züchterischer Sicht nachvollziehbar, wenn es sich bei den ausgewählten Rassen um Schweizer Rassen handeln würde. Es ginge um die Problematik, mit zu kleinen Populationen erfolgreiche Zuchtarbeit leisten zu müssen. Da die anerkannten Hunderassen wie auch weitere für den Herdenschutz in Frage kommende Rassen allesamt im Ausland grosse Populationen aufweisen, wird dieses Argument hinfällig.

Die Beschränkung auf zwei Rassen ist ­hingegen ein Verzicht auf vorhandenes Potenzial. Ob wir uns dies in der aktuellen Bedrohungssituation erlauben können, ist äusserst fraglich. In anderen Ländern werden seit Jahrhunderten auch andere Hundetypen erfolgreich eingesetzt. Auf diese Erfahrungen müssen wir zurückgreifen können. Zudem wollen sich verschiedene Schafhalter in der Hundeauswahl und in der Hundeausbildung mehr engagieren, als lediglich auf die Zuteilung eines Hundes vom Bund zu warten. Dieses Engagement und dieses Übernehmen von Selbstverantwortung wollen und dürfen wir nicht unterbinden.

Der Kanton Graubünden kündigte im Februar an, dass man wenn nötig selbst ein Zuchtprogramm für Herdenschutzhunde starten werde. Wie ist diesbezüglich der Stand der Dinge?

Es geht nicht darum, ein eigenständiges Zuchtprogramm auf die Beine zu stellen, sondern lediglich darum, allen Tierhaltern und Alpbewirtschaftern die Möglichkeit zu geben, Herdenschutz betreiben zu können, falls sie dies wollen und dafür Engagement zeigen. Dies soll unabhängig von der Hunderasse geschehen, sofern die eingesetzten Hunde die Einsatzbereitschaftsüberprüfung erfolgreich bestanden haben.

Zurzeit arbeiten wir zusammen mit den betroffenen Hundehaltern die Richtlinien für ein kantonales Konzept aus, damit die angesprochene Öffnung in einem geordneten Rahmen und in nationaler und internationaler Zusammenarbeit stattfinden kann. Anschliessend werden wir die Schnittstellen mit dem Bund bereinigen. Das Konzept stellt für uns keine Konkurrenz zum Bundesprogramm dar, sondern ergänzt dieses, um den Bedürfnissen im Kanton Graubünden gerecht zu werden. Bund und Kanton verfolgen dasselbe Ziel. Eine intensive Zusammenarbeit ist in der sich massiv verschärfenden Problemlage essenziell.

Der Kanton Graubünden hat schweizweit, ja wohl gar europaweit, die grösste Wolfsdichte. Wie viele Wölfe/Rudel sind aktuell bekannt? Wie hoch sind die Schäden an Nutztieren?

Das Amt für Jagd und Fischerei hat inzwischen sieben Rudel mit Streifgebiet im Kanton Graubünden festgestellt und geht von rund 50 Wölfen aus. Nutztierrisse belaufen sich bis heute auf über 150 gerissene Tiere. In der grossen Mehrzahl sind Schafe, in Einzelfällen aber auch Ziegen betroffen.

Welche Erfahrungen in Bezug auf die Haltung von Herdenschutzhunden lassen sich auf die übrige Schweiz übertragen? Stützen sich die Empfehlungen vom Bund für den Herdenschutz auf die im Graubünden gemachten Praxiserfahrungen ab?

Im Grundsatz bauen die Empfehlungen des Bundes unter anderem auf den langjährigen ­Erfahrungen im Kanton Graubünden auf. Der Einsatz von Herdenschutzhunden entwickelte sich über viele Jahre auf der Basis einer guten Zusammenarbeit zwischen Bund und Kanton. In letzter Zeit wurden die Wünsche und Ansprüche des Kantons Graubünden vom Bund aber nicht mehr berücksichtigt, was dazu führte, dass verschiedene Betriebe aus dem Bundesprogramm ausstiegen oder ausgeschlossen wurden.

Mit der ­exponentiell wachsenden Wolfspopulation im Kanton Graubünden sind wir neuerdings in einem Experiment, welches in dieser Form in der Schweiz noch nie durchgespielt werden konnte. Die hohe Wolfsdichte, die intensive touristische Nutzung und die traditionelle, für unsere Kulturlandschaft und unsere gesellschaftliche Identität wichtige Alpwirtschaft müssen sich einen eng beschränkten Raum teilen. Von grossen Erfahrungen im Umgang mit dieser Wolfsdichte können wir folglich nicht sprechen. Es macht deshalb auch wenig Sinn, gesicherte Empfehlung abgeben zu wollen. Einzig die Tatsache, dass die Herausforderung ohne das Instrument einer wirksamen, gezielten und raschen Regulation nicht zu meistern ist.

 

Zur Person

Peter Küchler ist Präsident der Strategiekommission Herdenschutz und Direktor des Landwirtschaftlichen Bildungszentrums Plantahof.

 

 

Herdenschutzhunde

Herdenschutzhunde haben in vielen Ländern eine lange Tradition. Entsprechend entstanden unterschiedliche Rassen und Gebrauchskreuzungen. Sie haben alle gemeinsam, dass sie gross sind, selbstbewusst und selbstständig arbeiten und im Krisenfall ihre Herde gegen Eindringlinge verteidigen. Herdenschutzhunde arbeiten im Rudel, sind entsprechend sozial und müssen ihre gemeinsame Verteidigungstaktiken erlernen, um die Tiere optimal verteidigen zu können.

Charaktertiere

Damit die Herdenschutzhunde gut in der Herde arbeiten, braucht es auch immer wieder eine Selektion und Weiterzucht nur mit den besten Tieren. Meistens sind das in einem Wurf nur ein paar wenige Welpen, die wirklich gute Herdenschutzhunde werden. Aufgrund ihres Charakters und Arbeitswillens sind diese Hunde nur unter Vorbehalt als Familienhunde geeignet. Entsprechend schwierig ist es, Tiere zu vermitteln, die sich nicht als Herdenschutzhunde eignen, sich beispielsweise von der Herde entfernen oder Wanderer gar angreifen.

Schweizer Rassen

Auch die Schweiz hatte übrigens früher eigene Herdenschutzhunde-Rassen. Die grossen Sennenhunde wie auch der Bernhardiner hatten diese Aufgabe, solange der Wolf hier noch heimisch war. Schaut man heute den Charakter dieser Hunde an, wird klar, wie sehr die Zuchtarbeit und die zugedachte Aufgabe eine Rasse verändern.