Der Moment, als vier halfter- und zaunlose Pferde in Nachbars Feld grasen, ist etwas peinlich und treibt kurzfristig den Puls in die Höhe. Aber wenn auf deinen Ruf dann alle vier den Kopf heben, schauen und weiterfressen, bis du sie abholst, hat das etwas Magisches. Wer braucht schon Zäune, wenn es genug Gras und Liebe gibt? Dass ein Pferd, das in dem Moment alle Freiheiten der Welt hätte, wartet, statt wegzulaufen, das berührt das Herz. Tiere lösen in uns Emotionen aus. Der erste Atemzug eines Kalbes, die Gitzi, die nach dem Schoppen rufen, die Hunde, die genau merken, wann ich die Spazierschuhe anziehe und wann es nur langweilige Stallschuhe sind.

Das Leben und Sterben der Gantrisch-Wölfin

Auch die Wölfin F78 hat in uns Emotionen ausgelöst. Ihr Leben und ihr Sterben. Ich habe niemanden getroffen, der nicht von diesem Tier berührt gewesen wäre. Es ist der Duft von urtümlicher Freiheit, den sie verbreitet und den Neandertaler in uns weckt. Sie lässt uns träumen von einer unberührten Welt, von sternenklaren Nächten in der Höhle, neben dem knisternden Feuer, die friedlich schlafenden Kinder eingerollt in ihre Hirschfelle. Ihr Leben macht uns gefühlsmässig zu besseren Menschen. Lässt uns hoffen, dass es doch nicht so schlimm steht um unsere Welt. Ihr Sterben hat uns die brutale Wahrheit an den Kopf geworfen, die wir nicht sehen wollten.

Statt diese Welt aufzuräumen, träumen wir uns in bessere Zeiten, blenden aus, dass die geprägt waren von Hunger, Krankheiten und kalten Wintern, die ihren Tribut verlangten von Mensch und Tier. Hunger hatte auch F78. Wie verzweifelt muss ein wildes Tier sein, dass es versucht, in eine geschützte Herde einzudringen, in nächster Nähe des Menschen. Mehrmals, trotz Warnschüssen immer wieder, bis sie erschossen wurde. Aber sind wir ehrlich, was würde ein Neandertaler tun, den wir in der Stadt Zürich aussetzen?

Ein aussergewöhnlicher Nachruf

In den Tageszeitungen bekam sie einen langen Nachruf, die Wölfin. Die Verfasserin brachte zu Papier, was dieses wilde Tier in ihr auslöste, ohne dass die beiden sich je begegnet wären. Schrieb, wovon eine Journalistin dank dem kurzen Leben von F78 träumen konnte. Einen öffentlichen Nachruf schrieb sie, der einem innehalten lässt. Einer, wie ihn keiner der 6500 tödlich verunglückten Stadionbauer in Katar bekommen hat. Keines der knapp 10 000 Schweizer Covid-Opfer. Keiner, der sich in seiner Ausweglosigkeit umgebracht hat. Kein geschreddertes Küken, kein in Fischernetzen erstickter Delfin, kein an seinen angezüchteten Missbildungen verstorbener Chihuahua wurde je so geehrt. Weil, das sind viele, gehen in der Masse unter. Wieder einer ... und noch einer. Ein Hamsterrad, das wir uns nicht zutrauen, aufzuhalten. Aber eine Wölfin schützen und dabei alles Elend vergessen, könnte klappen.

Genug von Covid-19

Deshalb braucht das Volk nach einem Jahr der Bescheidenheit wieder Wein, Weib und Gesang. Genug nachgedacht. Genug mit sich alleine gewesen. Genug Familie gespielt. Genug gescheitert. Lasst uns das Leben geniessen als gäbe es kein Covid, ruft es mittlerweile gar aus dem Bundeshaus. Genug Vernunft, genug Solidarität, genug verzichtet. Äh, wegen den paar toten Menschen. Hat ja noch genug, gibt jeden Tag neue. Niemand will Freiheit, um das Grosi zu besuchen. Sie rufen nach Shopping und auswärts essen. Geld zusammen kratzen wollen sie jetzt – für die schlechten Zeiten. Und diese Gesellschaft denkt wirklich, sie hätte eine bessere Welt verdient, oder eine glückliche Wölfin?