Vier Herdenschutzhunde, zwei Fussgängerinnen, mehrere Bisse. Für eine der beiden Personen endete der sonntägliche Spaziergang vor einigen Wochen mit Bisswunden im Spital. Die überraschten Herdenschutzhunde hatten die Menschen als Gefahr eingestuft und bei einer Person mehrmals zugebissen.

Angst riecht nach Adrenalin

Was lief hier schief? Klar ist, dass die Herdenschutzhunde die Angst der einen Person riechen konnten. «Alle Hunde haben eine enorme Auffassungsfähigkeit über die Nase. Bei Angst schüttet der Körper Adrenalin aus, was der Hund riechen kann. Dieses Adrenalin deutet das Tier als Aggression und darum reagieren sie stärker auf einen Menschen, der Angst hat, als auf jemanden, der keine Angst hat.» Das erklärt Felix Hahn. Er ist Leiter der nationalen Fachstelle Herdenschutzhunde. Auf Anfrage erläutert er, dass es in der Schweiz pro Jahr ungefähr zu 20 Vorfällen zwischen Herdenschutzhunden und Drittpersonen kommt. Keine Ausnahme also, aber ein Schock für die betroffene Person.

«Es ist mit Hunden zu rechnen»

Wie konnte es so weit kommen? Auf der interaktiven Karte der Fachstelle Herdenschutzhunde ist im betroffenen Gebiet gekennzeichnet, dass «ganzjährig mit der Präsenz von Herdenschutzhunden zu rechnen ist». Ein explizites Betretungsverbot gibt es nicht – das wäre aufgrund des geltenden Fuss- und Wanderweggesetzes juristisch nicht möglich. Aber die Strasse ist mit einem Tor abgeriegelt und mit einer offiziellen Markierungstafel für Einsatzgebiete von Herdenschutzhunden versehen.

Die Kantone sind verpflichtet, die Markierung der Einsatzgebiete von Herdenschutzhunden vor Ort wie auch deren Darstellung auf einer Onlinekarte der Landestopografie zu koordinieren. «Online werden in der Regel nur die Einsatzgebiete in der Sömmerung dargestellt, da sich dort Wanderwege und Weideflächen von Schafen und Ziegen vielfach überschneiden», sagt Hahn.

Die Passantinnen durften den Privatweg zwar betreten, aber das verschlossene Tor mit dem Warnschild hätte sie davon abhalten sollen – es führte kein Wanderweg durch die Zone.

Es läuft ein Projekt

Auch ein Blick auf die interaktive Karte der Einsatzgebiete hätte die Spaziergängerinnen wohl von dieser Route abgehalten, wie Felix Hahn beschreibt. Trotz dieser Karteneinträge und der Warnschilder kommt es also zu 20 Fällen jährlich. Sind denn die Einträge zu wenig genau? Felix Hahn sagt: «Aktuell läuft ein Projekt, die Einsatzgebiete von Herdenschutzhunden in der Sömmerung, welche teilweise sehr weitläufig sind, noch detaillierter darzustellen.» Ziel dabei sei es, genau aufzeigen zu können, in welchem Teil einer Alpweide sich Nutztiere und Hunde gerade befinden, so Hahn. Müsste auch das Schild präziser sein? «Noch mehr auf die potenzielle Gefahr hinweisen kann man auf dem Schild nicht», meint Hahn. Die offizielle Tafel wurde bereits fünfmal überarbeitet – immer mehr Erfahrungen flossen da rein, die Hinweise wurden immer genauer.

Was nach der Revision des Jagdgesetzes ändert

Die Revision der Jagdverordnung konkretisiert die Organisation des Herdenschutzes und erweitert die Kompetenzen der Kantone, beispielsweise in Bezug auf die Auswahl der eingesetzten Hunderassen. Das Bundesamt für Umwelt bleibt für die Prüfung der Herdenschutzhunde zuständig, um einen einheitlichen Standard sicherzustellen. Zudem wurde die bisherige Einteilung in zumutbar und nicht zumutbar schützbare Alpen oder Alpweideflächen durch das einzelbetriebliche Herdenschutzkonzept gemäss Landwirtschaftsrecht ersetzt. Im Rahmen von Sparmassnahmen zur Sanierung des Bundeshaushalts wurde der Bundesbeitrag zum Herdenschutz auf 50 % reduziert.

Eine weitere Konfliktquelle: Weil die Abwehr von potenziellen Gefahren, wie es der Wolf sein kann, selbstständig passieren muss, müssen Herdenschutzhunde unbeaufsichtigt gehalten werden können, das steht so im kantonalen Hundegesetz sowie im eidgenössischen Jagdgesetz. «Entsprechend unkontrolliert kann das Zusammentreffen von Drittpersonen und Herdenschutzhunden sein, wenn die Hunde überrascht werden», betont Felix Hahn. (Im Kasten unten lesen Sie, wie solche Situationen als Halter zu vermeiden sind).

Ein Restrisiko bleibt...

Und wie beugt man solche Fälle in der Ausbildung und der Zucht vor? Laut der offiziellen Regelung müssen alle in der Schweiz eingesetzten Herdenschutzhunde ausgebildet, sozialisiert und geprüft sein. «Die totale Sicherheit hat man beim Einsatz von Herdenschutzhunden aber nie. Umso wichtiger ist ein angepasstes Risikomanagement», sagt Felix Hahn. Die Anlagen für ein effizientes Schutzverhalten sind bei Hunderassen, die traditionell zum Herdenschutz eingesetzt werden, weitgehend genetisch fixiert. Diese Hunde wurden über Jahrtausende entsprechend selektioniert. Herdenschutzhunde, bei denen es zu unberechenbaren Konflikten mit Drittpersonen gekommen ist, sollte man züchterisch aber nicht weiterverfolgen, meint Hahn.

«Noch mehr auf die potenzielle Gefahr hinweisen kann man auf dem Schild nicht.»

Felix Hahn, Leiter Fachstelle Herdenschutzhunde

Die Hunde unterlaufen in ihrer Ausbildung eine mehrphasige Prüfung, in der unter anderem ihr Verhalten beim Auftreten einer fremden Drittperson in Anwesenheit der Schafherde beobachtet wird.

Keine Abwehr ohne Aggressivität

Dabei betont Felix Hahn: «Es gibt keine Abwehr ohne eine Form von Aggressivität – das muss man sich einfach bewusst sein.» Hingegen muss das Schutzverhalten klar kontextgebunden, d. h. in Bezug auf die eigene Herde, sein. In der eidgenössischen Jagdgesetzgebung wie auch in der Tierschutzgesetzgebung wird dies berücksichtigt. Kommt es dennoch zu einem Zahnkontakt mit der Drittperson, besteht der Hund die Prüfung nicht. Der Hund besteht die Prüfung ebenfalls nicht, wenn das Abwehrverhalten auch dann eintritt, wenn keine Schafe in der Nähe sind.

Warum also diese aggressive Reaktion auf die zwei Passantinnen? Felix Hahn macht in diesem Zusammenhang auf die Rudeldynamik und vor allem auf den Überraschungseffekt aufmerksam. «Einige Leute unterschätzen diese Faktoren. Schlafende Hunde zu wecken, birgt immer ein Risiko, auch wenn die Hunde gut ausgebildet und geprüft werden.»

Die Kurx mit dem freien Betretungsrecht

Felix Hahn beobachtet weiter: «Die Bereitschaft, auf einer Wanderung Kompromisse einzugehen und entsprechende Gebiete mit Herdenschutzhunden zu umgehen, ist sehr unterschiedlich». Das hiesige Fuss- und Wanderwegnetz ist sehr dicht. «Das freie Betretungsrecht für Wald und Weide nehmen die Schweizer und Schweizerinnen sehr ernst. Die Leute sind es sich oftmals nicht gewohnt, eingeschränkt zu werden.»

«Die Bereitschaft, auf einer Wanderung Kompromisse einzugehen und Gebiete mit Herdenschutzhunden zu umgehen, ist sehr unterschiedlich.»

Der Fall zeigt, dass Halter und Halterinnen von Herdenschutzhunden trotz verschiedener getroffener Sicherheitsvorkehrungen in Konflikte mit Drittpersonen verwickelt werden können. Ein gründliches Risikomanagement sei deshalb zentral, wie Hahn betont.

Hier finden Sie die Herdenschutz-Karte. 


Heinz Feldmann von der BUL: «Herdenschutzhunde können nur mit einem Konfliktmanagement sicher eingesetzt werden»

[IMG 2] Herr Feldmann, was können Halter von Herdenschutzhunden tun, um in einem Ernstfall möglichst gut abgesichert zu sein?
Heinz Feldmann: Auch nach der Jagdgesetzrevision bleibt ein präventives Konfliktmanagement von zentraler Bedeutung, um die Sorgfaltspflicht zu erlangen. Bis zum 31. Januar 2025 konnten Betriebsverantwortliche davon profitieren, dass die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) die Gefährdungsermittlung durchführte und dem Betriebsverantwortlichen ein Sicherheitsgutachten mit den zu treffenden Massnahmen zur Verfügung stellte. Durch die Umsetzung der Massnahmen erlangte der Betrieb die nötige Rechtssicherheit.

Das ist mit der revidierten Jagdverordnung nicht mehr so?
Nein, die per 1. Februar 2025 geänderte Jagdverordnung entbindet Halter von Herdenschutzhunden (HSH), ein obligatorisches Gutachten der BUL zu durchlaufen, um HSH halten zu dürfen. Die Kantone können diese Sicherheitsgutachten dennoch einfordern.

Welche Versicherung empfehlen Sie Herdenschutzhundehaltern?
Es ist notwendig, dass sowohl der Alpbetrieb als auch der Heimbetrieb über eine separate Haftpflichtversicherung verfügen. Je nach Versicherungsgesellschaft kann Grobfahrlässigkeit und/oder Rechtsschutz inklusive Strafrecht mit eingeschlossen werden. Dabei kann die Höhe der Versicherungssumme von Versicherung und Kanton unterschiedlich verlangt werden. Laut dem Agridea-Merkblatt Arbeitshunde in der Landwirtschaft ist es üblich, aber nicht obligatorisch, dass Landwirte und Landwirtinnen eine Betriebs- und eine Privathaftpflichtversicherung abgeschlossen haben, welche eine Schadenssumme von fünf Millionen abdecken. Schäden, die durch Hunde des Betriebes verursacht werden, sind dadurch abgedeckt.
Entstehen Schäden durch das Hirtenpersonal mit den betriebseigenen Hunden oder den Hunden der Mitarbeitenden, so sind diese durch die Betriebshaftpflicht gedeckt, sofern eine Betriebshaftpflicht existiert. Es gilt vor gängig abzuklären, ob der Betrieb über eine Betriebshaftpflichtversicherung verfügt.

Welche Pflichten haben Haltende?
Der Betrieb muss künftig eine Gefährdungsbeurteilung zum Konfliktmanagement machen. Wenn er es nicht selber kann, muss er Spezialisten beiziehen.

Der Eintrag des Einsatzgebietes auf der interaktiven Karte ist prioritär für die Alpgebiete vorgesehen.
Zudem ist der Betriebs- oder Alpverantwortliche in der Pflicht, die Aufenthaltsorte (Hofareal, Weiden und Alpweiden) mit den offiziellen Markierungstafeln für Dritte gut sichtbar und fachgerecht zu markieren.

Offensichtlich werden diese Tafeln dennoch manchmal missachtet. Wie geht die BUL diese Problematik an?
Aus Sicht der Unfallverhütung ist auch künftig zwingend eine einheitliche Markierung der Gebiete mit Herdenschutzhunden anzustreben. Die neue Jagdverordnung sieht dies vor und für die Schweizer Wanderwege, Schweiz Mobil und die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BFU) muss der Fokus auch zukünftig auf der Information und Markierung liegen.

Wo sehen Sie eine Schwachstelle in der Sache?
Die Kantone tragen per sofort viel mehr Verantwortung in der Herdenschutzfrage. Es wird sich zeigen, ob da genügend Ressourcen und Wissen vorhanden ist. Es ist auch fraglich, ob die Entscheidungsträger der Kantone erkannt haben, dass die vorhandenen Informationsmittel und Markierungstafeln auch mit der neuen Jagdverordnung für die Vermeidung von Konflikten sehr wichtig sind. Denn aus Sicht der BUL können Herdenschutzhunde nur in Begleitung eines Konfliktmanagements sicher eingesetzt werden.

Wie sieht dieses Konfliktmanagement konkret aus?
Es dürfen nur anerkannte, ausgebildete und sozialisierte Herdenschutzhunde zum Schutz von Schafherden eingesetzt werden.
Betriebsverantwortliche müssen die montierten Warnschilder und die Hütesicherheit der Zäune regelmässig überprüfen.
Veränderungen im HSH-Rudel und Umfeld müssen laufend mitberücksichtigt und beurteilt werden.

Was ist bei dieser Risikobeurteilung sonst noch wichtig?
Man muss davon ausgehen, dass viele Menschen Angst vor Hunden haben und über keine Kenntnisse im Umgang mit HSH verfügen. Offiziellen Wander- und Bikerouten sowie anderen wichtigen Wegen ist besondere Beachtung zu schenken und wenn immer möglich eine Einflechtung anzustreben

Was tun, wenn es zu einem Biss kommt?
Bei Beissvorfällen mit Herdenschutzhunden melden sich Halter bei der Fachstelle Herdenschutz, Tel. 021 619 44 31