Um die Jahrtausendwende seien pro Wolf und Jahr noch rund 33 Schafe gerissen worden, schreiben Pro Natura, BirdLife, die Gruppe Wolf Schweiz und der WWF in einer gemeinsamen Mitteilung. Heute liege dieser Wert bei lediglich fünf Rissen, was die Umweltverbände als Hinweis darauf deuten, dass der Herdenschutz wirke. «Auch wenn er nicht alle Probleme löst», wird in der Mitteilung ergänzt.
In Graubünden rund die Hälfte
Im Vergleich zum Vorjahr seien im Kanton Graubünden fast 50 Prozent weniger Risse verzeichnet worden, heisst es weiter. Die vier Umweltverbände veröffentlicht Zahlen, die von den zuständigen kantonalen Fachstellen sowie Identitas bzw. der TVD stammen sollen. Z. T. sind die Werte als Schätzungen ausgewiesen. Bis auf Waadt, Tessin und St. Gallen, wo die Risszahlen im Vorjahresvergleich ungefähr stabil sind, zeigen die aufgeführten Kantone rückläufige (VS) oder sogar «stark rückläufige» (GL, GR) Zahlen.
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Oft andere Todesursachen
Gleichzeitig geben Pro Natura und Co. zu bedenken, dass viele gesömmerte Nutztiere in den Alpen wegen anderer Ursachen zu Tode kämen: «Auf Bündner Alpen sind rund 1000 Schafe und Ziegen an Krankheiten und Unfällen verendet.» Der Anteil der Risse beträgt nach den Statistiken der Umweltverbände je nach Kanton zwischen 9 und 44 Prozent. Im Wallis hätten sich ausserdem 80 Prozent der Risse in «völlig ungeschützten» Herden ereignet.
In der Mitteilung wird betont, schweizweit sei die Anzahl gesömmerter Schafe im Vergleich zu 2022 stabil geblieben. Seit 2020 habe die Zahl des gesömmerten Kleinviehs in Kantonen mit Wolfsrudeln sogar markant zugenommen.
Gezielte Abschüsse tragen Früchte
Man ist in der Mitteilung aber auch der Meinung, dass Herdenschutz und Wolfsregulierung Hand in Hand gehen müssen. So sei der Rückgang der Schäden in jenen Rudeln auffällig, in denen besonders schadenstiftende Leittiere erlegt worden sind. Namentlich sind dies das Bündner Beverin-Rudel, für dessen Leitwolf es eine Abschussbewilligung gegeben hat und die Rudel von Moesola GR sowie Marchariuz VD, wo die Elterntiere jeweils versehentlich geschossen worden seien. «Diese Rudel sind kaum mehr negativ in Erscheinung getreten», halten die Umweltverbände fest. Gezielte, zeitnahe Eingriffe gegen schadenstiftende Rudel, speziell Leittiere, könnten demnach zu einem Rückgang der Schäden führen, so ihre Schlussfolgerung.
Mehr Entgegenkommen bei Beiträgen
Damit der notwendige Herdenschutz flächig umgesetzt werden kann, fordern Pro Natura, WFF, BirdLife und die Gruppe Wolf Schweiz von Seiten der Behörden bei der Vergabe von Unterstützungsgeldern mehr Entgegenkommen. Ausserdem seien die regionalen Besonderheiten zu berücksichtigen.
Als unbestritten bezeichnet man in der Mitteilung die mit dem neuen Jagdgesetz möglichen präventiven Eingriffe in Wolfsrudel. Da aber auch Einzelwölfe in Gebieten ohne Herdenschutz Schäden anrichten könnten, funktioniere die Regulierung nur im Zusammenspiel mit den entsprechenden Massnahmen.
«Massnahme ohne Realitätsbezug»
Gestützt auf die von ihnen zusammengetragenen Statistiken kritisieren die Umweltverbände die Pläne des Bundesrats zur neuen Jagdverordnung per 1. Dezember 2023 scharf. Der Abschuss von 70 Prozent des Schweizer Wolfsbestands sei eine Massnahme ohne Realitätsbezug oder wildbiologische Basis.
Dies, zumal bereits Möglichkeiten zur Bestandsdezimierung beim Wolf bestehen würden, heisst es weiter. Der Wille des Parlaments sehe indes vor, nur bei drohenden Schäden oder Gefährdung einzugreifen. Pro Natura verlangt daher Weitblick, Pragmatismus und Verantwortungsgefühl im Umgang mit der Wolfspräsenz statt «blindem Aktionismus zugunsten vermeintlich einfacher Lösungen».
«Gut, aber noch keine Garantie für die Zukunft»
«Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es keine schweizweite Übersicht zu den Risszahlen, sondern nur die Meldungen einzelner Kantone», sagt Thomas Jäggi vom Schweizer Bauernverband auf Anfrage. Es sei aber schon zu hoffen, dass es damit nicht weitergegangen sei wie im «katastrophalen» Jahr 2022. Jäggi bestätigt, dass etwa die Entnahme des Beverin-Leitwolfs eine sehr gute Wirkung gezeigt habe.
Zu der Feststellung der Umweltverbände, die Anzahl gesömmerter Tiere sei gleichgeblieben, gibt Jäggi zu bedenken, dass die Gesamtzahl nichts über allfällige Hotspots mit geringerer Auffuhr aussage. Auch vorzeitige Abalpungen seien darin nicht berücksichtigt.
Enormer Mittelaufwand
Die Umweltverbände argumentieren, der heute umgesetzte Herdenschutz funktioniere. Dann müsste dessen künftige Weiterführung und Wirksamkeit in Zukunft sichergestellt werden, woran es Zweifel gibt. «Wenn sich die Situation gegenwärtig besser zeigt als im vergangenen Jahr, ist das zwar gut», meint Thomas Jäggi. Es sei aber keine Garantie, dass die Situation rund um die Wolfs-Problematik langfristig verbessert werden konnte. Jäggi verweist auf die grossen finanziellen Mittel, die der Bund als Unterstützung für den Herdenschutz bereitstellt: Über 11 Millionen Franken in zwei Jahren oder bei rund 270 Wölfen im Durchschnitt über 2022 und 2023 mehr als 40'000 Franken pro Wolf allein für zusätzliche Notmassnahmen. «Diese doch sehr grossen Summen müssen eine Wirkung haben, sonst wäre der enorme Mitteleinsatz nutzlos verpufft», so Jäggi. Ob auch in Zukunft Gelder in dieser Höhe zur Verfügung stehen, ist allerdings nicht gesichert. Für zusätzliche Mittel müsse jedes Jahr im Budgetprozess gekämpft werden.
Keine Vollkosten
Weiter gelte es zu beachten, dass Landwirt(innen) nach wie vor nicht für den ganzen Mehraufwand zum Schutz ihrer Herden entschädigt werden. Und Erfahrungen aus dem In- und Ausland zeigen gemäss Thomas Jäggi, dass Wölfe den verstärkten Herdenschutz zu überwinden lernen.
Im Gegensatz zu den Umweltverbänden hält der SBV die Vorschläge des Bundesrats für die neue Jagdverordnung nicht für übertreiben, sondern für ungenügend. Die Umsetzung in den Kantonen sei wichtig, sagt Thomas Jäggi, werde aber durch die vorgesehene Verordnung behindert.

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