Kommen Totgeburten bei Rindern oder Erstlingskühen häufiger vor als bei älteren Kühen? Diese Frage beschäftigt nicht nur die Wissenschaft, sondern auch viele Bauern. Besonders letztes Jahr und diesen Frühling wurde dieses Phänomen auf vielen Betrieben beobachtet. Was die Ursache für die hohe Totgeburtenrate sein könnte, so tappen die Bauern im Dunkeln.

Zwei Drittel tote Kälber

Auch auf dem Betrieb von Stefan Krähenbühl aus Greng FR waren die vielen Totgeburten bei seinen Erstlingskühen ein Problem: «Von den sechs abgekalbten Rindern, hatten vier eine Totgeburt», beklagt sich der Landwirt. Seine Rinder haben jeweils normal abgekalbt, entweder waren die Kälber bei der Geburt schon tot oder sie starben wenige Minuten danach. «Wir fanden keine Erklärung dafür», sagt er. Nur, dass der Selenhaushalt der Rinder eventuell nicht stimmen könnte. Von jetzt an versorgt Krähenbühl seine Rinder zusätzlich mit einem Langzeit-Bolus. «Schon bei der Besamung verabreichen wir diesen und nicht erst ein paar Wochen vor dem Abkalben, wie es von Tierärztinnen und Tierärzten empfohlen wird», hält er fest. Mit dieser Massnahme hofft der Landwirt, den Vitamin- und Mineralstoffhaushalt der Muttertiere sicherstellen zu können. Aber auch Stefan Krähenbühl weiss: Die Dosis machts. Denn Überdosierungen können zu Vergiftungserscheinungen führen. Dies gelte besonders für die Vitamine A und D sowie für Selen, Kupfer und Kochsalz. Trotzdem hat er bis jetzt mit der Bolus-Variante gute Erfahrungen gemacht.

Verschiedene Ursachen

Selenmangel entstehe generell durch selenarmes Grundfutter. Bei ungenügender Versorgung mit Spurenelementen (u. a. auch Selen) und Vitaminen seien die Körperfunktionen und der Stoffwechsel der Kuh und des Rindes sowie die Entwicklung des Kalbes beeinträchtigt. «Daher ist für eine optimale Versorgung mit essenziellen Spurenelementen und Vitaminen für gesunde und widerstandsfähige Kälber zu sorgen», sagt die Tierärztin Vroni Jeker. Der Grundstein werde während der Trächtigkeit gelegt. Viele Bauern wissen aber nicht, dass es in der ganzen Schweiz Selenmangel-Standorte gebe, sagt ein Fütterungsberater. Somit bietet das Grundfutter aus diesen Standorten auch einen Mineralstoffmangel. Aber nicht nur Kälber können von Selenmangel betroffen sein, sondern auch Ziegen, und vor allem bei Schafen trete dieses Phänomen häufiger auf. «Bei wiederholten Problemen lohnt es sich, den Selenstatus über Blutproben festzustellen», empfiehlt Jeker. Bei den Kälbern sollte zudem noch mit Eisen für die Blutbildung vorgebeugt werden.

Hoher Anteil

Aber nicht nur Stefan Krähenbühl hatte bei sich tote Kälber zu beklagen, auch bei Stefan Widmer aus Dürrenroth BE trat dieses Phänomen letztes Jahr auf. Den Grund kennt er bis heute nicht. «Dieses Jahr läuft es wieder besser», hält er fest. Auch er versorgt von nun an seine Rinder mit einem Bolus.

«Tatsächlich ist die Anzahl ­Totgeburten bei Erstlingskühen zweimal höher als bei nicht-Erstlingskühen», sagt Claire Bussy Pestalozzi vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV). Diese Zahl blieb in den letzten Jahren aber unverändert. Die Totgeburtenrate bei den Rindern liege bei 1000 Geburten, bei rund 90 Kälbern. Hingegen gebe es bei den Kühen nur rund 40 Totgeburten. Letztes Jahr wurden gesamthaft 12 589 Totgeburten festgestellt. Und wie es unter den Bauern bekannt sein dürfte, war dabei der Anteil von männlichen Kälbern höher als der von den weiblichen.

Stiere für Rinder einsetzen

Aber nicht nur der Selen- und Vitaminmangel können die Ursache für die Totgeburten sein. Gaby Hirsbrunner, Professorin an der Vetsuisse-Fakultät in Bern, sagt: «Gemäss einer Dissertation von Thomas Mock an der Wiederkäuerklinik in Bern können auch ein zu tiefes Erstkalbealter (das Tier ist zu wenig ausgewachsen), eine infektiöse Totgeburt oder zu grosse Kälber die Todesursachen sein.» Daher empfiehlt sie auch, keine Natursprungstiere, sondern nur Stiere mit einem vorteilhaften Geburtsablauf auf die Rinder einzusetzen. Auch während des Geburtsvorgangs müsse man einem Rind mehr Zeit lassen, damit die Geburt ohne Komplikationen vonstattengehe (vgl. nebenstehendes Interview).

Um dem Problem Totgeburten allgemein entgegenzuwirken, heisst es für die Landwirte, neben einer ausgeglichenen Fütterung auch eine Top-Futterqualität zu produzieren. Denn trotz enormen Fortschritten in der Züchtung im Futterbau sind den Mineralstoffzugaben weiterhin grosse Beachtung zu schenken», sagt ein Fütterungsberater. Nicht zuletzt auch wegen der steigenden Milchleistungen aller Rassen, die in den letzten 25 Jahren um über 2000 kg pro Kuh und Laktation oder fünf bis sieben Kilo pro Tag zugenommen haben. Denn: Kraftfutter enthalte meistens nur so viel Mineralfutter, wie für die Mehrleistung nötig sei.

 

«Die Totgeburtenrate ist bei Erstlingskühen 33 bis 50 Prozent höher»

Viele Bauern berichten, dass es momentan viele Totgeburten bei Erstlingskühen gebe. Hat die Vetsuisse-Fakultät in Bern Kenntnis davon?

Gaby Hirsbrunner: Aufgrund dieser Annahme wurden bereits 2016 bis 2018 im Rahmen einer Dissertation (Thomas Mock) an der Wiederkäuerklinik der Vetsuisse-Fakultät, Universität Bern, perinatal (vor, während und bis 48 Stunden nach Geburt) verstorbene Kälber gesammelt und untersucht, wie auch deren Geburtsvorgang/Geburtshilfe auf den betroffenen Betrieben erfragt. Im Rahmen dieser Dissertation war die Totgeburtenrate auf den betroffenen Problembetrieben 10 %. Im Vergleich: 2016 bis 2018 betrug der über www.agate.ch gemeldete Prozentsatz an Totgeburten schweizweit 2,2 bis 2,3 %, nicht unterteilt in Erstkalbinnen und ältere Kühe. Allerdings fällt auch anhand internationaler Daten auf, dass die Totgeburtenrate von Erstlingskühen um ein Drittel bis zur Hälfte höher ist als diejenige älterer Kühe.

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Gaby Hirsbrunner ist Professorin an der Vetsuisse-Fakultät in Bern. (Bild zVg)

Was könnte die Ursache dafür sein?

Folgende Risikofaktoren wurden in der Dissertation Mock diskutiert, kamen aber nicht alle vor:

  • zu tiefes Erstkalbealter (Erstkalbin zu wenig ausgewachsen/unreif)
  • männliche Kälber (grösser, spielt bei Erstkalbinnen daher eine grössere Rolle)
  • zu spätes in die Herde bzw. in die Abkalbe-Boxe verbringen (Stress)
  • zu weitmaschige Geburtsüberwachung, zu späte Hilfe nach Fruchtwasserabgang
  • Selenunterversorgung
  • vermehrt infektiöse Totgeburten bei Erstkalbinnen im Vergleich zu älteren Kühen

Haben die Kälber von Erstlingskühen eher einen Mangel an Mineralstoffen und Spurenelementen als die von älteren Kühen?

Tendenziell ja, da sie in der Mineralstoff- und Spurenelementversorgung zum Teil «vergessen gehen».

Welche Massnahmen kann ein Landwirt treffen, um die Totgeburtenrate bei den Erstlingskühen zu senken?

Kein Natursprungstier beim Rind (nur KB mit nachzuchtgeprüften Rinderstieren) einsetzen. Falls die Rinder im Aufzuchtbetrieb sind, diese spätestens drei Wochen vor Abkalbung zurück auf den Heimbetrieb bringen. In der ersten Geburtsphase sollte das Rind in die Abkalbeboxe gebracht werden (mit Sichtkontakt zu anderen Kühen). Ein Kontrollgang nach Beginn der Geburt alle drei bis sechs Stunden, nach Fruchtwasserabgang alle 30 Minuten vornehmen. Kontrolle von Hand, ob das Kalb richtig im Mutterleib liegt. Spätestens eine Stunde nach Fruchtwasserabgang (gründliche Reinigung Hände/«Schloss»). Nach dem Blasensprung können beim Rind bis zum Durchtritt des Kopfes durch das «Schloss» vier bis sechs Stunden vergehen. Das heisst, genügend Zeit lassen für die Eröffnung der weichen Geburtswege (Voraussetzung: richtig liegendes Kalb).Auch die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen, bzw. bei Problemen tierärztliche Hilfe anfordern.

Sollte vor dem Abkalben der Rinder ein Vitaminbolus verabreicht werden, damit das Kalb im Mutterleib genügend Mineralstoffe und Spurenelemente erhält?

Auf eine adäquate Spurenelement-Versorgung sollte geachtet werden, z. B. in Form eines Bolus. Verabreichungszeitpunkt nach Packungsbeilage, als Anhaltspunkt beim Trockenstellen bzw. bei Rindern im letzten Trächtigkeitsdrittel.