Es ist noch fest im Bewusstsein der Schweizer verankert: Das Wild muss geschützt werden. Freizeitsportler sollen Rücksicht nehmen, Jäger Einschränkungen einhalten. Dabei gibt es in der Schweiz längst deutlich mehr Wild, als nachhaltig wäre: Um die Verjüngung steht es seit Jahren schlecht, und Besserung ist nicht in Sicht. Mittlerweile werde das in vielen Wäldern deutlich sichtbar, sagt Andrea D. Kupferschmid von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Birmensdorf.

Eiche und Ahorn leiden

Fehlten vor zehn Jahren noch die ganz kleinen Bäumchen, sind es heute auch jene in der Grössenklasse von zwei bis zehn Metern. Besonders gravierend: Der hohe Wildbestand gefährdet die Anpassung der Schweizer Wälder an das sich immer deutlicher verändernde Klima. Anstelle von Fichte und Buche sollen nach Ansicht der Fachleute vermehrt Eiche und Ahorn aufkommen, um den Wald «klimafit» zu machen. Aber gerade diese Baumarten sind vom Wildverbiss besonders stark betroffen.

Auch das starke Wachstum der Wolfspopulation konnte bislang keine Abhilfe schaffen. Positive Effekte zeigen sich lokal, so etwa beim Calanda-Rudel, in dessen Kernrevier Kupferschmid und ihre Forscherkollegen tatsächlich eine reduzierte Verbissintensität nachweisen konnten. Die Crux: Nicht feststellbar ist, ob dies auf eine grossflächige Reduktion des Schalenwildbestandes durch den Wolf zurückzuführen ist – oder ob die Pflanzenfresser einfach in andere Wälder ausgewichen sind und dort ihr Zerstörungswerk fortsetzen.

Wolf treibt Wild in Schutzwald

Brisant dabei: Bevorzugte Ausweichgebiete könnten laut Kupferschmid «steile und unwegsame Wälder» sein, wo der Wolf weniger effizient jagen kann. Damit könnten ausgerechnet Schutzwälder zu Refugien der vor dem Wolf geflüchteten Hirsche, Rehen und Gämsen werden. Ebenfalls keinen Einfluss auf den anhaltend hohen Wildbestand hat die Freizeitnutzung. Diese hat seit der Coronakrise 2020 noch einmal deutlich zugenommen. Dem Wild konnten die Touristenströme in der freien Natur aber nicht wirklich etwas anhaben. Feststellbar ist laut Kupferschmid allerdings, dass der Verbiss entlang vielbegangener Waldwege geringer sei als in Waldstücken ohne menschliche Freizeitaktivität.

Mehr Jagd, weniger Schutz

Tritt das Wild wegen der vielen Jogger und Biker aber seltener aus dem Wald aus, führt das in den ruhigeren Rückzugsgebieten zu erhöhtem Verbiss. Beim Rotwild führen Störungen im Winter ausserdem auch zu einem viel höheren Energieverbrauch – und entsprechendem Nahrungsbedarf, so Kupferschmid.

Als wichtige Lösung sieht sie deshalb eine stärkere Bejagung. Dass diese nicht geschieht, liegt zum einen an einer Gesetzgebung, die noch aus Zeiten stammt, in denen Gämse und Hirsch selten waren und vor übermässiger Jagd geschützt werden mussten. «Die grossen Jagdbanngebiete waren wichtig, damit sich die Bestände erholen konnten», sagt Kupferschmid. Aber: «Heute braucht es sie für die wild lebenden Huftiere nicht mehr.»

«Würde es weniger kosten, gäbe es vielleicht mehr Jäger»

Nötig wäre heute viel mehr ein Jagdmanagement, bei dem an bestimmten Orten und Zeiten Schwerpunkte gesetzt werden könnten. Konkret müsste die Jagd den Bestand in einem Wald dann reduzieren, wenn sich dieser aufgrund seines natürlichen Lebenszyklus verjüngen sollte. Wo eine solche konzentrierte Bejagung stattfinden sollte, müssten aber auch genügend Jäger aufgeboten werden können.

Kupferschmid verweist in diesem Zusammenhang auf die hohen finanziellen Hürden, die in der Schweiz für das Jagen gelten. «Jagen ist heute ein sehr teures Hobby», sagt sie. «Würde es weniger kosten, gäbe es vielleicht mehr Jäger.» Die Alternative dazu sei, die Regulierung verstärkt durch die Wildhut vornehmen zu lassen. «Da stellt sich die Frage, was am Ende mehr kostet.»

Wo Forst und Jagd zu einer guten Kooperation finden, gebe es aber auch Beispiele für eine gelungene Verjüngung, sagt Kupferschmid. Oft sei dies in Gebieten der Fall, wo Borkenkäfer, Windwurf oder grosszügige Schläge eine flächige natürliche Verjüngung erlaubten. «Wenn dort der Luchs hinzukommt und der Wildbestand durch die Jagd reduziert wird, sieht es gut aus für die Verjüngung», sagt Kupferschmid.