Die genetische Forschung hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Seit gut 15 Jahren gelingt es, genetische Mutationen zu identifizieren, die als Ursache für Erbfehler in der Rinderzucht gelten. Dabei sind die meisten dieser Erbfehler rezessiv – Symptome treten nur bei reinerbigen Tieren auf. Dass die Branche heute Gentests einsetzen kann, um solche Mutationen zu erkennen und Risiken zu minimieren, ist ein Meilenstein für die Zucht.
Das Swissherdbook Bulletin widmete sich in einer seiner Ausgaben 2024 diesem Thema und veröffentlichte die Erkenntnisse. Alex Barenco, Vizedirektor von Swissherdbook, beschrieb darin die neuesten Daten zu genetischen Markern, die bei drei Erbfehlern der Rassen Holstein und Swiss Fleckvieh festgestellt wurden. Diese Erkenntnisse sind also nicht neu, sie beschäftigen aber weiterhin die Branche – insbesondere in Bezug auf den Swiss-Fleckvieh-Stier Lorbas.
2000 Töchter und ein Problem-Gen
Besonderes Augenmerk verdient Lorbas-P, weil er in der Zucht äusserst stark eingesetzt wurde. Über 2000 Töchter dieses Stiers sind bereits in der Nachzuchtprüfung Milchleistung, und im vergangenen Herbst war er auf den Viehschauplätzen ein echter Publikumsmagnet. Doch mit seiner Popularität hat Lorbas auch das sogenannte MW-Gen (Early Onset Muscle Weakness Syndrome) in die Swiss-Fleckvieh-Population eingebracht.
Dieses Gen kann bei reinerbigen Kälbern zu massiven Problemen führen. Betroffene Tiere können direkt nach der Geburt nicht stehen oder verlieren diese Fähigkeit kurze Zeit später. Laut dem Bericht von Swissherdbook liegt die Genfrequenz bei Swiss Fleckvieh derzeit bei 5,1 % – ein deutlicher Anstieg, der direkt auf den Stier Lorbas zurückzuführen ist.
Vor seinem Einsatz war das MW-Gen in der Population nicht vorhanden. Im Bericht wird allerdings betont, dass es keinen Grund zur Panik gibt. Risikopaarungen sind bislang selten, und die Besamungsstationen haben bereits reagiert. Um die Genfrequenz langfristig zu senken, werden Trägerstiere nicht mehr angekauft. Und für Züchter bedeutet das: Wer einen Natursprungstier nutzt, sollte den genetischen Status seines Stiers überprüfen, um mögliche Risiken zu vermeiden.
14 Prozent der Tiere tragen die Mutation
Ein weiterer Erbfehler, der in der Swiss-Fleckvieh-Population verbreitet ist, betrifft die progressive Netzhautdegeneration, abgekürzt RP (Rezessive Progressive Retinale Degeneration). Reinerbige Tiere können zunächst ihr Sehvermögen in der Nacht verlieren und später vollständig erblinden. Die Mutation, die vor Jahrtausenden bei Vorfahren der roten Rassen entstand, wurde über Generationen weitergegeben und wird heute vor allem mit den Stieren Plattery Odyssey und Pickel in Verbindung gebracht. Odyssey, ein reinerbiger Träger, hat die Mutation in der Swiss-Fleckvieh-Population stark verbreitet.
Inzwischen liegt die Genfrequenz bei Swiss Fleckvieh daher bei knapp 14 % – ein auffallend hoher Wert. Trotz der starken Verbreitung findet man wenig blinde Tiere. Dies deutet darauf hin, dass die Degeneration oft erst sehr spät auftritt und die meisten betroffenen Tiere abgehen, bevor sie erblinden.
Zwar sind die wirtschaftlichen Folgen weniger gravierend als bei anderen Erbfehlern, dennoch bleibt laut Swissherdbook Handlungsbedarf. Besamungsstationen verzichten bereits auf reinerbige Trägerstiere, und auch die Zahl mischerbiger Tiere soll reduziert werden. Auch hier gilt: Züchter, die Natursprungstiere einsetzen, sollten den genetischen Status ihrer Stiere prüfen lassen, um gezielt Risikopaarungen zu vermeiden.
Bei der Stierenwahl auf Risiken achten
Das MW-Syndrom tritt auch bei der Holstein-Rasse auf. Doch hier ist die Genfrequenz in der Schweiz mit 1,4 % deutlich geringer als bei Swiss Fleckvieh. Weiter erwähnt wird das sogenannte Blird-Gen, das französische Forscher 2022 entdeckt haben. Reinerbige Tiere mit diesem Defekt haben eine geschwächte Immunität im Verdauungssystem, was zu Wachstumsverzögerungen und Leistungseinbussen sowie zu einer höheren Abgangsrate bei Jungtieren führt. In der Schweiz liegt die Genfrequenz von Blird bei 4,2 %, und auch hier lautet die Empfehlung: Risikopaarungen vermeiden.
Wie Alex Barenco im Swissherdbook Bulletin erläutert, sind Gentests und die Veröffentlichung genetischer Marker ein wichtiges Instrument, um solche Herausforderungen in der Zucht zu bewältigen. Die Daten werden auf den Abstammungs- und Leistungsausweisen (ALA) sowie in den genetischen Markerlisten veröffentlicht. Damit haben Züchter die Möglichkeit, gezielt auf die genetische Gesundheit ihrer Tiere zu achten. Die App, welche die Besamungstechniker von Swissgenetics verwenden, und Besamungs-App der Zuchtverbände (InsemCow) bieten die Möglichkeit, das Erbfehlerrisiko vor der Stierenwahl abzufragen, ebenso wie die Paarungspläne der Zuchtverbände.