Als ich Kind war, zog im Winter der berühmte Giacomo mit seiner Schafherde durchs Gürbetal. Das war immer ein eine Aufregung, wenn es hiess, dass die Wanderherde in der Gegend sei. Nach der Schule zogen wir los und suchten sie. Eingemummelt in einen dicken Mantel stand Giacomo Stunde um Stunde am Feldrand, neben ihm riesige zottelige Hunde, die auf seinen Pfiff hin ein paar Ausreisser zurück trieben. Damals hatte es noch mehr Schnee und so gruben die Schafe geduldig ihr Futter hervor. Die Esel trugen auf ihrem Rücken, was es für ein Leben in der Kälte brauchte.

Wildtiere Der Wolf kehrt zurück in die Berner Agglomeration Tuesday, 14. December 2021 Als ich diese Woche Markus Nyffeler und seine Wanderherde besuche, liegt im Gürbetal nur wenig Schnee. Gras hätte es noch. Trotzdem ist ein Schafzüchter gerade dabei in einer nahen Weide seine Schafe zu verladen. Er hat Angst um seine Tiere und bringt sie lieber in den Stall, bevor der Wolf zuschlägt. Nur wenige Tage zuvor wurden auf der anderen Talseite acht Schafe vom Wolf getötet und schwer verletzt. Damit ist der Wolf nicht einmal ein Jahr nach dem Abschuss von F78 zurück in der Berner Agglomeration und versetzt die Kleinviehhalterinnen in Angst und Schrecken.

Fluch oder Segen?

Markus Nyffeler geniesst nach den trüben und kalten Tagen die Wintersonne. Ihn bringt der Wolf nicht aus der Ruhe. Er weiss, dass er seine 800 Schafe nicht einstallen kann. Doch je mehr Schafhalter ihre Tiere in Sicherheit bringen, desto gefährlicher wird es für die Wanderherde. Im letzten Winter wurde die Wölfin F78 mehrfach gefilmt, als sie den Nachtpferch von Nyffeler auskundschaftete. Die Frage ist wohl, wie hungrig ein Wolf sein muss, bis er ein Elektronetz überwindet. Oder wie viel es schneien muss, bis das Netz zu Boden gedrückt wird. Die Schafe, die letzte Woche gerissen wurden, waren von einem Netz geschützt. Doch wer weiss das schon in der nahen Stadt. Berichten die weissen Medien über den neuen Wolf im Mittelland, dann werden die Schafhalter wieder in den Kommentarspalten lesen dürfen, sie müssten halt Zäune stellen und Herdenschutzhunde kaufen.

Die Herdenschutzhunde von Markus Nyffeler können es auch überspringen, das geforderte 90 cm hohe Netz. Im Sommer auf der Alp beschützen Hunde und Zäune die Herde. Trotzdem weiss Nyffeler genau wie ein Wolfriss aussieht, denn der Wolf ist schlau. Und ein Zaunnetz kann auch mehr Fluch als Segen sein. Besonders wenn man es am Morgen aus dem Neuschnee graben muss, es im unebenen Gelände wolfdicht aufstellen möchte oder man ein Tier daraus befreien muss. Früher liessen die Hirten bei Schneefall die Schafe ohne Zaun stehen oder trieben sie unter die Bäume. Heute braucht es jede Nacht einen wolfssicheren Zaun, ob es einen halben Meter Neuschnee gibt oder nicht. Bei ungeschützten Tieren möchte der Kanton Bern künftig die Risse nicht mehr bezahlen.

Verschlossene Augen

Herdenschutzhunde in der Agglomeration einzusetzen wäre ein Risiko. Alleine ihr Bellen verursacht regelmässig Konflikte. Man darf gar nicht daran denken, wenn sie sich vor dem Einfamilienhausquartier einen archaischen Kampf mit dem Wolf liefern oder Frau Meiers Pudel über den Schulhausplatz jagen.Wie wohl die Dorfbewohner reagieren, wenn sie vor ihren Häusern gerissene und verletzte Schafe vorfinden? Es wird vermutlich nicht mehr lange dauern und wir werden es wissen.

Wiedermal verschliesst die Schweiz vor einem Problem die Augen, bis es unübersehbar vor der eigenen Haustüre angekommen ist. Wenn weiterhin eine nichtwissende Mehrheit versucht den Schafhirten das Handwerk zu erklären, dann bin ich nicht sicher, ob meine Grosskinder noch staunend vor einer Wanderherde werden stehen können. Es braucht eine dicke Haut in diesem Metier. Nicht nur wegen der Kälte, sondern insbesondere dann, wenn einem aus den warmen Amtsstuben heraus beschieden wird, so ein Wolf sei doch kein Problem. Man könne ja auch höhere Netze stellen, wenn 90 cm nicht reichen.

Die Inlandproduktion sinkt

Aktuell liegt der Preis für Weidelamm bei Fr. 6.10 je kg Lebendgewicht. So ist ein 30 kg schweres Lamm zwölf Franken billiger als im Sommer, da war der Preis noch bei 6.50 Fr. je kg LG. Das Angebot sei zu hoch, darum sinke der Preis. Jeder Schweizer isst im Jahr rund 1,2 kg Schaffleisch, davon kommt die Mehrheit, nämlich 60 Prozent aus dem Ausland. Tendenz steigend – also bei den Importen, nicht beim Pro-Kopf-Konsum. Schweizers essen lieber Poulet aus der Halle als Schaf von der Weide.

2019 betrug die Inlandproduktion beim Schaffleisch 44,8 Prozent, 2020 waren es noch 39,9 Prozent, trotz guter Produzentenpreise. Heuer wurden trotz Rekordpreisen erneut 1,3 Prozent oder 3000 Schlachtschafe weniger im Inland produziert. Acht davon hat der Wolf vergangene Woche wenige Kilometer ausserhalb von Bern getötet. Ein Schicksalsschlag für den Schafhalter, ein vernachlässigbarer Kollateralschaden für den Grossteil der Bevölkerung. Das grosse mediale Echo blieb aus. Nicht der Rede wert.