Im Gespräch mit dem Berner Professor Peter V. Kunz wird klar, was im Bereich Tierrecht gemacht werden muss – auch in der Schweiz, die sich diesbezüglich oft auf die Schultern klopft.
Herr Kunz, Sie sagen, den Tieren fehlen unter anderem die Rechtsfähigkeit und die Betreibungsfähigkeit. Gibtes Anwält(innen), die sich speziell für Tiere einsetzen?
Peter V. Kunz: Es gibt nur wenige private Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, die sich auf Tierrecht im Allgemeinen und auf Tierschutzrecht im Besonderen spezialisiert haben.
Warum?
Dies erklärt sich wohl damit, dass irgendjemand ihre Honorare bezahlen muss – und Tiere als solche können dies ja nicht.
Wann kommen Anwälte, die sich für Tiere engagieren, zum Einsatz?
Sie kommen beispielsweise bei Tierschutz-Verletzungen zum Einsatz. Während Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte normalerweise nur gegen Entschädigung tätig sind, gibt es durchaus Personen und Organisationen, z. B. Tierschutzorganisationen, die sich ohne Honorar für Tiere einsetzen.
Sie sagen, «Medienvertreter interessieren sich regelmässig nur – aber immerhin – für zwei Themen: Tierschutz und Tierethik.» Über welche Aspekte sollte Ihrer Meinung nach besser berichtet werden?
Tiere spielen in sämtlichen Rechtsgebieten – öffentliches Recht, Privat-, Straf- sowie Wirtschaftsrecht – eine wichtige Rolle, die medial jedoch selten beleuchtet wird. Dies betrifft gerade auch das Privatrecht und damit Eigentumsrechte, nicht zuletzt an Tieren.
Beispiel 1: In der Praxis kommt es immer wieder zu Streitigkeiten bei Scheidungen, gerade bei der «Kinderaufteilung». Was indes kaum jemals angesprochen wird, sind vergleichbare Auseinandersetzungen bei der Aufteilung der Heimtiere im Fall einer Scheidung.
Beispiel 2: Ebenfalls nicht zu unterschätzen sind privatrechtliche Haftpflicht-Auseinandersetzungen gegen Tierhaltende, wenn Tiere einen Schaden verursachen.
Welche Artikel des Tierschutzgesetzes würden Sie sofort ändern, wenn Sie könnten?
Im Grossen und Ganzen denke ich, dass das Tierschutzrecht durchaus angemessen ausgestaltet ist und den verschiedenen Interessen und Interessenten – auch der Wirtschaft und der Landwirtschaft – ausgewogen Rechnung trägt.
Aber …?
Als durchaus diskutabel erachte ich aber Art. 2 Abs. 1 des Tierschutzgesetzes und damit den Anwendungsbereich des schweizerischen Tierschutzrechts. Dieses ist Stand heute nämlich beschränkt auf Wirbeltiere. In vielen anderen Staaten unter-stehen heute schon längst auch wirbellose Tiere dem Tierschutzrecht. Das Schweizer Tierschutzrecht hat im internationalen Vergleich diesbezüglich also Aufholbedarf.
Es gibt wohl keinen anderen Rechtsbereich, zu demähnlich viele Volksinitiativen, Referenden oder Petitionen eingereicht werden, wie zum Tierrecht; in diesem Zusammenhang stehen v. a. zwei Themen im Vordergrund: das Tierschutzrecht sowie das Jagdrecht. Warum unterliegen (Nutz)tiere dennoch solch lückenhaftem Rechtsschutz?
Die Nutztiere werden heute durchaus durch das Tierschutzrecht geschützt, doch sind aus Gründen der Eigentumsgarantie sowie der Wirtschaftsfreiheit gewisse Kompromisse vorgesehen, die politisch entschieden werden müssen. Im Fokus der aktuellen Debatte steht insofern sicherlich die Massentierhaltungs-Initiative.
Sie sagen, nicht nur in der Praxis, sondern auch in der Rechtswissenschaft stellen Tiere ein vernachlässigtes Nebenthema dar. Sowohl thematisch als auch personell – zum Beispiel an Universitäten – und fordern einen dringenden Ausbau. Welche Bestrebungen sind in Gang, um diesen zu realisieren?
Bis anhin wurde und wird in der akademischen Schweiz erst wenig gemacht – dies war denn auch der Grund, dass ich im Jahr 2019 sozusagen als professoraler «Einzelkämpfer» etwas Gegensteuer gegeben habe; in der Zwischenzeit habe ich verschiedene tierrechtliche Publikationen veröffentlicht und nächstes Jahr wird ein umfassendes Buch «Tierrecht» publiziert.
Kürzlich hat an der Uni Bern eine Kollegin von mir erstmals ein tierethisches Seminar angeboten. Anscheinend soll künftig auch an der Uni Zürich ein tierrechtliches Angebot vorhanden sein. In Zürich werden ausserdem regelmässig Seminare von Daniel Jositsch in Zusammenarbeit mit der Tierrechtsorganisation TIR angeboten, allerdings ausschliesslich zum Tierschutzstrafrecht.
«Ohne einheitliches Vorgehen herrscht Rechtsunsicherheit.»
Im Rahmen der Einführung des «Grundsatzartikels Tiere» im Jahr 2003 hat die «Ent-Sachlichung» der Tiere stattgefunden. Sie hatte zum Ziel, die Rechtstellung von Tieren zu verbessern und hat bewirkt, dass Tiere nicht mehr als Sachen bezeichnet werden. Welche Auswirkung hatte diese «Ent-Sachlichung» für Nutztiere in der Landwirtschaft?
Eigentlich keine, weil landwirtschaftliche Nutztiere zu Erwerbszwecken oder als Vermögensanlage gehalten werden und damit explizit von den meisten «Grundsatzartikeln Tiere» ausgeschlossen sind. Unbesehen dessen gilt das Tierschutzrecht natürlich ebenfalls für Nutztiere.
Sie sagen, eine tierrechtliche Oberaufsicht fehle weitgehend und die tieradäquate Auslegung der Normen müsse vorgenommen werden. Könnte es auch sein, dass das Tierrecht wegen seiner Interdisziplinarität – es betrifft ja Privat-, öffentliches-, Straf- und Wirtschaftsrecht – bisher sovernachlässigt wurde? Oder gibt es andere Gründe fürdie Vernachlässigung?
Das Tierrecht ist tatsächlich ein hochkomplexer Rechtsbereich, was zu dessen Vernachlässigung führt. Die Gründe dafür dürften mannigfaltig sein. Auf der einen Seite sind interdisziplinäre Herausforderungen vorhanden, z. B. Recht, Biologie oder Veterinärmedizin. Auf der anderen Seite stellt das Tierrecht ein Querschnitt-Thema über alle Rechtsgebiete dar, was für die meisten Juristen sehr anspruchsvoll ist. Das heisst, ohne ein vernetztes Denken ist Tierrecht eigentlich nicht denk- und machbar.
Was müssten Behördenwie das BLV oder kantonale Veterinärdienste Ihrer Meinung nach tun, um die Rechtssicherheit der Nutztiere zu stärken?
Im Grossen und Ganzen finde ich, dass Behörden im Veterinärbereich und ebenso im Landwirtschaftsbereich durchaus positiv arbeiten, auch wenn sie medial regelmässig kritisiert werden. Ich denke aber, dass zwei Verbesserungsmassnahmen im Vordergrund stehen sollten eine verstärkte rechtliche Ausbildung und Sensibilisierung der Mitarbeitenden sowie eine breitere Publikation der Entscheide, was praxisbildend wirken würde. Ohne eine solche Veröffentlichungspraxis entsteht schlicht kein einheitliches Vorgehen in den Kantonen. Das führt letztlich zu Rechtsunsicherheiten, auch für Landwirt(innen).
Wie kann man die Verschärfung der heutigen Praxis im Zusammenhang mit dem Straftatbestand der Tierquälerei erreichen, dessen aktuelle Form Sie hinterfragen?
Das Gesetz reicht völlig aus, d. h. es braucht nicht zwangsläufig eine Verschärfung. Ich finde aber, dass sich viele Richter schlicht allzu «sanft» oder «verständnisvoll» gegenüber Tierquälern zeigen. Es gibt immer wieder grässliche Fälle, bei denen ich schlicht nicht nachvollziehen kann, dass die Gerichte bloss bedingte Strafen aussprechen; die heutige eher «milde» Gerichtspraxis wirkt schlicht nicht abschreckend für Tierquäler. Das sollte geändert werden.
«Die heutige milde Gerichtspraxis wirkt schlicht nicht abschreckend.»
Wie kann man in der Praxis verhindern, dass die Rechtslage der Tiere von ethischen Interpretationen oder wirtschaftlichen Interessen verzerrt wird, wie dies heute teils der Fall ist?
Ethik und Ökonomie dürfen und sollen durchaus wichtige Rollen bei der Nutztierhaltung spielen. Das Halten von Nutztieren ist nicht illegal, und auch Landwirte dürfen sich auf die Eigentumsgarantie und auf die Wirtschaftsfreiheit berufen. Letztlich erfolgt aber bei jedem Fall eine konkrete Interessenabwägung, die politisch und nicht ideologisch vorgegeben wird.
Das Problem sind nicht selten ideologische Grabenkämpfe, etwa zwischen Tierschützern einerseits und Tiernutzern andererseits; insofern sehe ich mich nicht zuletzt als pragmatischen Vermittler zwischen den zwar medienwirksamen, aber wenig nutzbringenden Extrempositionen.
Wie kann man die Tierinteressen, wie Sie es nennen, gerade in der Nutztierhaltung vorrangig berücksichtigen, ohne dass dabei die Wirtschaftlichkeit des Tieres oder der Nutztierhaltung verringert wird?
Ich bin kein Ideologe, der allen Tierinteressen absolute Priorität einräumt. Die Tierinteressen werden teils bewusst den menschlichen Interessen untergeordnet, z. B. bei der Schlachtung von Tieren oder bei Tierversuchen. Dies geht durchaus in Ordnung, wenn es einen politischen bzw. einen demokratischen Entscheid der Gesellschaft darstellt.
Wenn der Abwägungsprozess jedoch nicht entschieden ist, sollten Gerichte und Behörden die im konkreten Einzelfall massgeblichen Normen tieradäquat auslegen. Das heisst, es wird nach dem Grundsatz «Im Zweifel zugunsten des Tieres» (in dubio pro animale) entschieden.
Zum Schluss noch etwas Philosophisches: Welche Aspekte in der Gesellschaft müssten sich verändern,damit neben der Wirtschaftlichkeit eines Tieres auch dessen Würde angemessen berücksichtigt würde?
Ich bin weder Vegetarier noch Veganer. Letztlich kann aber unsere Gesellschaft den besten Tierschutz betreiben, indemsie dafür bezahlt; Tierschutz erfolgt durch das Portemonnaie. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle bereit sein, nicht allein vollmundig über Tierschutz zu reden oder die Landwirtschaft zu kritisieren, sondern z.B. für tiergerecht produziertes Fleisch wesentlich mehr zu bezahlen. Der Bund sollte nicht unbedingt mehr landwirtschaftliche Verbote vorsehen – was mir als Liberalem wenig sinnvoll erscheint – sondern verstärkte Anreize schaffen, etwa im Bereich der Direktzahlungen.
Zur Person
Peter V. Kunz ist Rechtsanwalt und Direktor des Instituts für Wirtschaftsrecht in Bern. Er hat sich 2019 auf das Tierrecht spezialisiert. Kunz sieht sich als Vermittler zwischen medienwirksamen, aber wenig nutzbringenden Extrempositionen innerhalb des Tierrecht-Gebiets. Beruflich steht er oftmals zwischen Tierschützern und Tiernutzerinnen.