Eine unserer Limousin-Kühe verdient besondere Erwähnung: Traviata. Als ich für ein Kuhkälbchen der T-Linie einen Namen suchte, kam mir spontan «Traviata» in den Sinn.
Traviata war eine würdige, stolze Vertreterin ihrer Rasse. Sie besass ein schönes, rotbraun glänzendes Fell, wache Augen und lustige kleine Tautröpflein auf den Nüstern. Die typischen Aufhellungen der Fesseln, der Umgebung des breiten Flotzmauls und der Augen waren bei ihr gut ausgeprägt. Die übrigen Kriterien, die es zu einer exzellenten Beurteilung ihres Exterieurs brauchte, erfüllte sie ebenso.
In ihrem Auftreten und ihrer Haltung erschien sie mir wie eine Primadonna. Ich verstehe das in der ursprünglichen, positiv geprägten Bedeutung dieses Begriffs, also wie die erste Sängerin einer Operngesellschaft, welche die Hauptrolle spielt.
Das Vertrauen gewonnen
Wenn wir schon dabei sind, den Wörtern auf den Grund zu gehen, sei auch gleich der Name Traviata erläutert: «Die vom Weg Abgekommene». Diese Bedeutung entsprach unserer vierbeinigen Traviata absolut gar nicht. Wusste sie ihren Weg doch ganz genau! Es war keinesfalls verwunderlich, dass sie in der Herde rasch zur Leitkuh avancierte.
Was sie aber vor allen Dingen zu meiner Lieblingskuh werden liess, war ihr sanftmütiger, guter Charakter. Dank positiver Erfahrungen während des Aufwachsens in unserer Herde hatte sie gelernt, dass sie uns ihr volles Vertrauen schenken konnte. Und sie wiederum erarbeitete sich das Vertrauen der Herde.
Eine gute Leitkuh
Für Tierhalterinnen und Tierhalter ist es von grosser Bedeutung, ihr Leittier oder ihre Leittiere zu kennen. Sie tun gut daran, die Rangordnung der Herde zu beobachten und zu beachten.
Als sich Traviata ihren Rang als Leitkuh in der Herde gesichert hatte, brauchten wir am Abend nur ihren Namen über die Weide zu rufen. Sie liess die Ohren spielen, verstand, dass sie die Herde heimführen sollte, und setzte sich in Bewegung Richtung Stall. Die ganze Herde folgte ihr jeweils bis zum letzten übermütigen Kälbchen.
An ihrer Stellung arbeitete sie ständig. Als Leitkuh gab sie stets Signale an die anderen Kühe. Wenn sie zu grasen begann, fingen die andern auch an. Ein Kopfschwenken reichte, um ein rangniedrigeres Tier zum Ausweichen zu veranlassen.
Uns gegenüber verhielt sie sich sehr zahm; auch die zahlreichen Streicheleinheiten liess sie sich gerne gefallen. Ihrer Erfahrung, ihrer Persönlichkeit und wohl auch ihrer stattlichen Grösse und dem Gewicht war ihre Herdenposition zuzuschreiben.
Vom Pferd erschreckt
Obwohl Traviata grosse Sicherheit ausstrahlte, erlebten wir sie einmal in Panik. Sie war gerade mit ihrem wenige Tage alten Kalb in einer kleinen abgegrenzten Weide. Da galoppierte ein fremdes, durchgebranntes Pferd daher und setzte mit einem Sprung über den Hag zu Traviata und ihrem Jungen.
Das Pferd schleppte eine Longe hinter sich her. Die Kuh erschrak, rannte völlig verstört um ihr Kalb herum und versuchte, es zu beschützen. Sie beruhigte sich erst wieder, als wir sie mit dem Kalb in die Sicherheit des Stalls zurückgebracht hatten. Das Pferd war – so schnell, wie es aufgetaucht war – wieder hinter dem nahen Maisfeld verschwunden. Was für ein Spuk!
Knallen ängstigt alle
Ein anderes Mal führte Traviata die Herde auf dem Nachhauseweg an. Die Tiere bewegten sich hintereinander aus der Weide heraus dem Triebweg entlang vorwärts. Da ertönte ein entsetzlich lauter Knall.
Kuhohren hören besser als wir und können ausserdem Geräusche wahrnehmen, die das menschliche Gehör nicht registriert. Also müssen unsere Kühe damals um einiges stärker erschrocken sein, als ich es ohnehin schon war. Ich dachte zuerst an eine Explosion oder Ähnliches. Jedenfalls stob die ganze Herde auseinander wie eine aufgeregte Hühnerschar, wenn ein Raubvogel naht. Die Tiere rannten orientierungslos auf die Weide zurück.
Ich ging dann zu ihnen, redete beruhigend auf sie ein, rief Traviata und einige ranghohe Tiere beim Namen. Tatsächlich: Sie reihten sich erneut ein, um auf dem Triebweg dem Stall entgegenzugehen. Sie waren ungefähr an der gleichen Stelle des Triebweges angekommen, als sich dieser schaurige Knall von vorher wiederholte! Erneut trabten sie total panisch auf die Weide zurück.
Diesmal half alles Beschwichtigen und Flattieren meinerseits nichts mehr. Das Leittier verweigerte sich, also waren auch die andern nicht zu überzeugen. Sie hatten schon verinnerlicht: An dieser Stelle des Triebwegs knallts! Ihre Angst davor war so gross, dass wir sie danach zu zweit durch angrenzende Wiesen auf einem andern Weg heimtreiben mussten.
Der eigentliche Grund für das überraschende Ereignis waren zwei F/A-18-Maschinen der Schweizer Armee mit dem dazugehörenden Überschallknall.
Neun Nachkommen
Traviata hatte sehr schöne Nachkommen: sieben Stieren- und zwei Kuhkälbchen. Bei der Geburt von zweien dieser Kälblein hatten wir Glück, dass sie die komplizierte Geburt heil überstanden.
Bei Trabant war es – Laune der Natur – eine Steisslage. Dank des Geschicks des zugezogenen Tierarztes purzelte das Kalb dann doch gesund und munter auf das weiche Stroh.
Bei Titan, dessen Grösse seinem Namen alle Ehre machte, zeigte Traviata mit Zähneknirschen ihre Schmerzen an. Die Geburt stagnierte, weil diesmal ein Überwurf vorlag. Nach sorgfältigem Untersuch entschloss sich die Tierärztin, in unserem Stall einen Kaiserschnitt durchzuführen. Der Entscheid war richtig, wurde doch das Kalb auf diese Art lebendig geboren. Traviata überstand diesen Kaiserschnitt gut und schenkte in den folgenden Jahren noch drei weiteren Kälbchen das Leben auf normale Weise.
Manchmal liegt halt auch im Stall alles auf Messers Schneide, und für Spannung ist gesorgt. Die Dankbarkeit und die Freude über das neue Leben sind dann jeweils besonders gross. Nichts ist selbstverständlich!
Irgendwann ist es so weit
Dieser treuen Lieblingskuh konnten wir uns gut von vorne nähern. Da Kühe kurzsichtig sind und nur gerade vor ihrer Nase dreidimensional wahrnehmen können, ist es klüger, nur bei zahmen, vertrauensvollen Tieren diese Form der Annäherung zu wählen.
Einer scheuen Kuh nähert man sich langsam von der Seite oder schräg von hinten. Mit ihren seitlich am Kopf liegenden Augen hat sie zwar ein Sichtfeld von fast 360 Grad. Wegen ihrer Kurzsichtigkeit kann sie jedoch den Abstand nicht genau einschätzen. Räumlich sehen kann sie nur in einem kleinen Spektrum gerade vor sich. Bei einer Mutterkuh, die man nicht kennt, bleibt man besser auf Distanz. Sie wird auf jeden Fall ihr Kalb schützen und verteidigen.
Nachdem Traviata zwölf Jahre alt geworden war, zeichnete sich langsam das Abschiednehmen ab. Sie zog ihr letztes Kalb Topolino auf. Es tat weh, zu sehen, wie sie die Herde zwar zu Beginn des Weidewegs noch anführte, dann aber die rangoberen Tiere an sich vorbeiziehen liess und einfach nicht mehr mochte. Wir mussten dieses einmalige Tier schliesslich in Würde den Weg gehen lassen, den sie alle gehen.
Ihre Nachkommen sind eine wunderbare Hinterlassenschaft. In ihnen lebt Traviata weiter. Auch all das, was wir durch sie gelernt und mit ihr erlebt haben, wird in unserer Erinnerung seinen Platz behalten.