Die Amsel ist der dritthäufigste Brutvogel in der Schweiz. Die meisten Menschen kennen zumindest das auffällige Männchen in seinem glänzend schwarzen Federkleid und mit seinem gelben Schnabel. Die Amsel ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch häufige Vogelarten ihren besonderen Reiz haben.

Stadtamseln singen länger

Zuerst ist ihr Gesang zu erwähnen, der meist als «flötend» beschrieben wird. «Amseln könnte ich stundenlang zuhören», meint Livio Rey von der Vogelwarte. Die Männchen suchen sich für ihr Konzert gerne erhöhte Sitzwarten aus. Auf der Spitze von Bäumen oder auf Dachgiebeln sind sie gut sichtbar, wenn sie vor Sonnenaufgang in den Tag hinein singen. Wann genau sie damit anfangen, hängt von ihrem Lebensraum ab. Studien haben gezeigt, dass Stadtamseln Stunden früher zu flöten beginnen und auch viel später wieder damit aufhören als ihre Artgenossen auf dem Land. Wahrscheinlich ist dies eine Folge der Dauerbeleuchtung durch künstliches Licht.

«Amseln waren explizit als scheu bekannt.»

Livio Rey, Vogelwarte, über die erstaunliche Entwicklung von Stadtamseln.

Dass es Stadtamseln überhaupt gibt, ist keine Selbstverständlichkeit. «Einst galt die Amsel als scheuer Waldbewohner», erzählt Livio Rey. Historisch könne man sogar nachvollziehen, wie sich die Nutzung des urbanen Lebensraums durch die Amsel von Europa aus zu weiter östlich lebenden Populationen ausgebreitet habe. «Die Wanderung in die Städte begann in Mitteleuropa bereits im 19. Jahrhundert. Noch in den 1960er- oder 1970er-Jahren war die Amsel in Osteuropa praktisch ein reiner Waldvogel», so Rey. Diese Anpassung an den Menschen ist zwar verschiedenen Vogelarten gelungen, etwa Finken, Meisen oder Rotkehlchen, die allesamt in Gärten heimisch geworden sind. «Amseln waren aber explizit als scheu bekannt», gibt der Ornithologe zu bedenken. Das macht ihren Wandel zum vorwitzigen Nachbarn des Menschen spektakulärer.

Geteilte Arbeit

Weniger spektakulär ist das Nest einer Amsel, das sie aus Moos, dünnen Zweigen und Halmen baut. Innen ist es dafür mit Erde ausgekleidet. Das Weibchen übernimmt das Ausbrüten und ist mit seinem braun gesprenkelten Gefieder optimal getarnt. Der schwarz gefiederte Partner beteiligt sich an der Jungenaufzucht, indem er bei der Nahrungsbeschaffung mithilft. Während der Brutzeit verteidigen Amseln ihr Revier, ansonsten geben sie sich eher sozial und tummeln sich zum Beispiel im Winter weitgehend konfliktfrei in grösseren Gruppen.

Zunehmend weisse Federn

Es gibt immer wieder Berichte von Amseln mit weissen Federn – einzelnen oder ganz blank weissem Gefieder. «Es ist dann von Albinos oder auch Teil-Albinos die Rede», sagt Livio Rey. Ein Albino ist es aber nur, wenn der Vogel rote Augen hat. Denn bei diesem Gendefekt fehlt jede Pigmentierung, auch in den Augen, weshalb der rote Augenhintergrund durchschimmert. Aufgrund dieser Definition gibt es auch keine «Teil-Albinos»: Entweder fehlen alle Pigmente (und es ist ein Albino) oder es sind Pigmente vorhanden und es ist kein Albino.

Es könnte sich hingegen um einen Fall von Leuzismus handeln, einem anderen Gendefekt mit teilweisem Verlust der Färbung. Weiss gescheckte Amseln seien aber in der Regel von «fortschreitendem irreversiblem Ausbleichen» betroffen, erläutert Rey. Der Vogel verliert immer mehr Pigmentzellen, wodurch er bei jeder Mauser mehr weisse Federn bekommt.

«Solcher Farbverlust ist für die Vögel in der Regel unproblematisch», gibt der Experte Entwarnung. Albinos hätten aber ein verringertes Sehvermögen und könnten daher eher Feinde übersehen, was ihre Lebenserwartung schrumpfen lasse.

Der Amsel geht es aber generell sehr gut, der Bestand steigt schweizweit sogar an. Spärlichere Amsel-Beobachtungen im Sommer seien eher damit zu erklären, dass zu dieser Zeit das Brutgeschäft abgeschlossen ist. «Die Vögel sind deshalb und wegen der hohen Temperaturen weniger aktiv», so Livio Rey. Ausserdem stünden mehr Insekten zur Verfügung, weshalb die Nahrungssuche weniger Zeit in Anspruch nehme.

Mit Gedächtnis punkten

Neben der Annahme von Dörfern und Städten als Lebensraum haben Amseln auch begonnen, sich akustisch an die menschliche Geräuschkulisse anzugleichen. «Sie imitieren das Geräusch hupender Elektroroller oder bauen Handy-Klingeltöne in ihren Gesang ein», schildert der Ornithologe.

Zur Erklärung dieses Verhaltens gebe es mehrere Theorien, eine hält er für besonders plausibel: «Damit können Männchen ihr gutes Gedächtnis demonstrieren und bei Weibchen punkten.»