Steile Felswände laufen in malerischen Hochebenen aus. Auen und Lämmer weiden ruhig und geniessen ihre Sommerpause. Die Schafalp erstreckt sich über 197 Hektaren von Elm GL bis ins Linthtal. 700 Schafe werden hier gesömmert. Mehrmals pro Woche steigen Älpler oder Alpmeister zu den Schafen auf und kontrollieren die Tiere. Ihr Marsch dauert immer mehrere Stunden.

Samuel Elmer bewirtschaftet die Alp Wichlen in fünfter Generation, er ist hier aufgewachsen. Der junge Alpmeister kennt jeden Felszug und jedes Plateau. Er weiss, wie die Tiere bei Wetterumschwung zu führen sind, die Gefahren und Tücken der Hochalp sind ihm bestens bekannt. Für ihn ist die Wichlenalp ein arbeitsreiches Paradies. Doch der Sommer 2022 veränderte alles. Eine Woche nach Alpauffahrt taucht ein bisher unbekannter Feind auf und reisst zwei Lämmer. Der Wolf hat seinen Weg auf die Alp Wichlen gefunden.

Der Wolf kommt bei Vollmond

Begleitet wird er von Verzweiflung, Ohnmacht und Überforderung. «Ich hatte überhaupt keine Erfahrung mit diesem Raubtier und wusste nicht, was ich jetzt machen sollte», erzählt Samuel Elmer. Infrastruktur, um die Schafe auf der weitläufigen Alp zu schützen, ist kaum vorhanden. Freunde und Familie werden mobilisiert, Netze auf die Alpweiden geflogen. Während die einen Pferche erstellen, suchen die anderen Helfer die versprengten Schafe zusammen. Drei Nächte werden die Schafe eingepfercht, fast einen Monat herrscht Ruhe auf der Alp. Dann der nächste Angriff, sechs tote Tiere. Wieder werden Helfer aufgeboten, die Schafe durchgezählt, Weiden eingezäunt, verschwundene Tiere gesucht. Der Aufwand ist enorm. Die Bilder von verletzten und halb gefressenen Schafen bleiben in den Köpfen der Beteiligten haften. Das Leiden der Tiere spürt Elmer wie am eigenen Leib.

Er übernimmt mit zwei Bekannten die Nachtwache in einer kleinen Hütte. Morgens um vier hören die Freunde nervöses Blöcken und Schellengeläut. Doch als sie vor die Türe treten, ist der Nebel so dick, dass nicht einmal die Nachtsichtgeräte eingesetzt werden können. Am nächsten Morgen finden sie wieder tote Schafe, knapp 20 Meter von ihrem Nachtlager entfernt. Während des ganzen Sommers schlägt der Wolf noch drei weitere Male zu, oftmals im Schutze des Nebels und bei Vollmond. Silvia Elmer, die Mutter des Alpmeisters, bemerkt als Erste den Zusammenhang der Risse mit dem Mondzyklus. Kein Zufall, wie die Wildhüter bestätigen. Bei Vollmond sind die Raubtiere von Natur aus aktiver.

Herdenschutzbeauftragter überfordert

Für Samuel Elmer, seine Familie und seinen Älpler ist der einst idyllische Alpsommer zu einem einzigen Albtraum geworden. Auf dem Heimbetrieb des Alpmeisters bleibt viel Arbeit liegen. «Jedes Mal, wenn das Handy klingelte, zuckte ich innerlich zusammen und fragte mich, ob er jetzt wieder zugeschlagen hatte», erinnert sich Elmer. Die psychische Belastung ist enorm. Sie endet auch nicht, als die Schafe im Herbst zurück ins Tal kommen. Der Alpmeister plagt sich mit der Frage, wie es weitergehen soll. Denn die Alp Wichlen zählt zu den nicht zumutbar schützbaren Alpen, und auch die Herdenschutzbeauftragten sind mit der Situation überfordert. Elmer stellt fest: «Alle meine Erfahrungen nützen nichts – meine Vorstellungen und Pläne sind über den Haufen geworfen.» Frust, Wut und Ratlosigkeit spiegeln sich in seinem Blick.

Ein Hirt aus dem Südtirol

Der Alpmeister hat Glück. Er findet einen jungen, motivierten Älpler aus dem Südtirol, der mit seinen vier Hunden die Herausforderung annimmt. Zusammen mit zahlreichen Netzen wird eine mobile Unterkunft auf die Schafalp geflogen. Wo immer möglich werden Weiden eingezäunt, die Nacht verbringen die Schafe in einem Pferch. Samuel Elmer staunt über die Arbeit seines Hirten und dessen Hunde. «Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Nacht für Nacht so viele Schafe zusammengetrieben und eingezäunt werden können», sagt er. Sie haben Glück. Den ganzen Sommer lässt sich kein Wolf blicken, die Schafe der Alp Wichlen werden verschont.

Das neue Weidesystem hat aber auch Nachteile. Durch das Treiben und die zusätzliche Bewegung entstehen vermehrt Trampelpfade. Die Schafe verlieren an Gewicht, und Krankheiten verbreiten sich in den Pferchen sehr schnell. «Ich kann mich nicht erinnern, so viele lahmende Schafe in einem Alpsommer betreut zu haben», sagt Elmer. Nun steht der nächste Sommer bevor. Ob das neue System auch bei aktiver Wolfspräsenz standhält, weiss niemand. Samuel Elmer kann nur hoffen. Wenn nicht, ist die Zukunft der Schafalp Wichlen ungewiss.