Es ist bitterkalt draussen. Immer noch ist es tiefe Nacht, wenn wir am Morgen in Richtung Stall gehen. Der Rand meiner Gummistiefel ist gefroren. Ich beisse auf die Zähne und schlüpfe rein – in der linken Hand eine Tasse frisch gebrühten Kaffee, in der rechten einen Sack Katzenfutter. Die fleissigen Stalltiger warten an ihrer Fressachse in der Tenne des Pferdestalls. Ihre Näpfe werden vom Vollmond beleuchtet – was für eine Kraft vom Himmelskörper an diesem Morgen ausgeht, denke ich.
Beleuchtet vom Licht aus dem Melkstand laufen sechs Kühe um den Kuhstall herum. Sie gehen zu den Kälbern. Wir lassen die Tränker und Aufzuchtkälber diesen Winter zum ersten Mal an Ammen trinken – eine deutliche Arbeitsentlastung. Die Kälber sind gesünder, die Kühe motivierter und ich glücklicher.
Katzen und Kälber
Mein erster Gang führt nach den Katzen stets zum Kälberstall. Ich kontrolliere, ob alle eine passende Zitze gefunden haben oder ob eines der Kleinsten noch Hilfe nötig hat, was selten vorkommt. Ich verweile einen Moment, höre dem Schmatzen der Kälber zu und geniesse die Ruhe, die von diesen Kühen ausgeht – vier Red Holsteiner, eine OB-Kuh und meine geliebte Simmentalerin. An ihr trinken drei Kälber, sie hat zweifelsohne aktuell am meisten Milch.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kurz nach fünf. Der Kaffee ist getrunken, die Tasse bleibt irgendwo stehen und ich gehe weiter zur Abkalbeboxe. Hier liegt Amalka – eine Galba-Tochter. Sie verkörpert exakt jene Kuh, die niemand will. Weder das Bundesamt noch ein Viehzüchter und schon gar nicht eine Konsumentin. Sie ist der Inbegriff einer Hochleistungskuh, hat an einer Viehschau nichts verloren und ist im Grunde ein fleissiges Knochengerüst. Die Fütterungsstation meidet sie konsequent und das seit Jahren und ihre 10 000 kg Milch gibt sie aus Gras, Heu und Mais – und genau so sieht sie auch aus.
Erschöpfte Mutter
Amalka erwartet ihr fünftes Kalb. Sie hat die Augen geschlossen und liegt da im tiefen Stroh, wie ein kleiner Hund in seinem Körbchen. In den letzten Tagen konnte sie schlecht aufstehen, kaum laufen, ihre zittrige Hinterhand deutete aber nicht auf einen Kalzium- oder Phosphormangel hin. Amalkas lange Beine sind ein Handicap. Als Kalb «vergrittete» sie im Alter von wenigen Wochen. Vergessen hat weder sie noch wir das Ereignis, aber trotzdem ist Amalka, die den Namen einer tschechischen Märchenfee trägt, geblieben. Meist mit Mast besamt, schenkte sie jedes Jahr einem gesunden Kalb das Leben. Unkompliziert und unauffällig marschierte sie in der Herde mit und meisterte sogar einen schweren Impfabszess ohne medizinische Betreuung. Kühe, wie man sie sich eigentlich wünscht – wenn sie nur etwas schöner wäre.
Ich habe Amalka gern und ihr schwankender Gang bereitete mir an jenem Morgen Sorgen. Schüsslersalze und Homöopathie gaben mir schliesslich bei der Wegfahrt vom Hof in Allmendingen bei Bern in Richtung BauernZeitung ein gutes Gefühl. Ich wusste, am Tag des Vollmonds wird Amalka abkalben.
Die lange Trächtigkeit
Eigentlich hatte Amalka ihre neun Monate Trächtigkeit bereits im Dezember hinter sich gebracht. Jeder Tag, der danach verstrich, verriet mir ein bisschen mehr, dass sie einen Muni gebären dürfte. Mein Mann Walter hatte Amalka im Natursprung belegt – mit Flower Boy, einem Bombastic-Sohn. Aus Flower-Boy hatten wir uns mehr erhofft. Bislang lagen von ihm nur Stierkälber im Stroh. Und so verstrichen die Tage und Amalka begann zu übertragen. Und mit jedem Tag wurde die Kuh schwächer, ihr Gang schwankender und das Aufstehen mühsamer. Neben der Abkalbeboxe lagen alle Mittel bereit, die Amalka direkt nach der Geburt bekommen sollte. Wenn das nur gut geht, dachte ich. Dass ich den ganzen Tag nichts vernahm, ortete ich schliesslich als mässig gute Botschaft.
Rot wie ein Feuer
Die Geburt habe ich schliesslich verpasst. Aber der Anblick dieses noch nassen, feuerroten Kuhkalbs im Stroh werde ich so schnell nicht mehr vergessen. «Wo hast du nur diese gedeckt rote Farbe her, kleine Aidyn», fragte ich, vor ihr im Stroh kniend. Aidyn ist die weibliche Form von Aidan, eines berühmten irischen Heiligen aus dem siebten Jahrhundert. Der Name ist mit dem irischen Wort für Feuer verwandt.
Die breite, weisse Holsteinerblesse des Vaters und die starken weissen Abzeichen der Mutter hat Aidyn nicht mitbekommen. Die Natur hatte schliesslich einen anderen Plan mit ihr. Und so sehr wir auf den mehrheitlich weissen Stier gewettet hätten, so sehr hat uns Aidyn gezeigt, dass wir die Natur weder beherrschen noch mit Sicherheit verstehen können. Wir können sie nur schützen und uns von ihr immer wieder überraschen und überzeugen lassen.
Als Aidyn sich zitternd auf ihre noch wackeligen Beine stellte, erfasste mich ein tiefes Gefühl von Frieden und Demut. Aidyn, das kleine Wunder, erinnert mich fortan daran, dass das Leben sich nie vollständig planen lässt und dass genau darin die grösste Schönheit liegt. Und so war die Kälte des Morgens längst vergessen, und ich wusste: Dieser Tag war ein stiller Triumph der Natur. Aidyn ist der Beweis dafür, dass selbst in der einfachsten Scheune Wunder geschehen können – unabhängig davon, ob der Mond darüber wacht oder längst seinen Platz dem Tag überlassen hat.
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