Mitte Juni holte die Schafalpungsgenossenschaft Klosters-Serneus 700 Schafe von der Alp, nachdem der Wolf in der ersten Nacht zehn Tiere tötete und sechs weitere so schwer verletzte, dass sie erlöst werden mussten (hier geht's zum Artikel). Roman Maruggs Stimme wird brüchig, als er erzählt, was er an jenem Morgen auf der Alp Ferga-Cunn angetroffen hat: «Es liefen Lämmer herum, bei denen die Gedärme raushingen, anderen Tieren fehlte ein Bein. Es sind Bilder, die ich nie vergessen werde und nie mehr sehen möchte», sagt der Schafhalter.
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Eine Milchviehalp bot Hilfe
«Nach dem Übergriff mussten wir uns die Frage stellen, ob und wie wir weitermachen», schildert Roman Marugg, der Alpvorsteher ist. Zum Glück bot die Milchviehalp Pardenn unterhalb der Schafalp eine Weide an, wo notbedürftig ein Nachtpferch für die Schafe erstellt wurde, so dass sie in der Nacht bewacht werden konnten.
Die Alp Ferga-Cunn ist eine grosse Alp mit 100 Stössen. «Wir haben geschaut, wo man punktuell Zäune aufstellen könnte, haben aber rasch gemerkt, dass das mit 700 Schafen nicht funktioniert. Wir hätten Tag und Nacht auf die Schafe aufpassen müssen», sagt der 38-Jährige. Ein Aufwand, der für die Schafbesitzer und fürs Alppersonal nicht zu bewältigen und auch nicht zumutbar war.
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Man habe bei Pro Natura nach Freiwilligen gefragt, die beim Zäunen oder der Nachtwache helfen könnten. «Da hiess es, sie hätten erst ab Ende Juni wieder Leute. Das war für uns zu spät.» So wurde nach einer Krisensitzung mit allen Bestössern entschieden, die Schafalp zu entladen. Die auswärtigen Schafe konnten auf andere Alpplätze verteilt werden.
Sorge ums Alppersonal
Nach langem Hin und Her entschieden Willi Däscher, Präsident der Schafalpungsgenossenschaft, und Roman Marugg, mit den Schafen wieder auf die Alp zu gehen. Dies einerseits den Schafen zuliebe, die auf der Alp nicht unter Hitze und Ungeziefer leiden müssen. Andererseits wollte man den Hirten, der den vierten Sommer auf der Alp hütet, auch nicht einfach nachHause schicken.
Auf der Alp gibt es einen Teil, wo einigermassen gezäunt werden kann für den Nachtpferch und die Schlechtwetterweide. Hier wollen sie es nochmals versuchen und den Sommer hoffentlich gut beenden. Zurzeit weiden dort 140 Schafe. «Rein aus finanzieller Sicht ist es unmöglich, in Zukunft einen Hirten zu bezahlen», stellt Marugg klar. Er spricht von einer riesigen psychischen Belastung – für die Tierbesitzer, aber ebenso für den Alphirten, dem die Schafe anvertraut sind. Marugg sagt:
«Wenn du nachts nicht mehr ruhig schlafen kannst, aus Sorge, was dich am nächsten Morgen erwarten könnte, gehst du kaputt.»
Dass man künftig kein Alppersonal mehr findet, macht ihm fast mehr Sorgen als der Wolf.
Zu viele Interessenskonflikte auf der Alp
Der Einsatz von Herdenschutzhunden auf der Hochalp war in dieser Alpsaison kein Thema. Zu viele offene Frage gibt es für Roman Marugg. «Durch unsere Alp führen mehrere Wanderwege. Was ist, wenn ein Hund einen Wanderer oder einen Hund angreift? Dann bleibt es wieder an uns Bauern hängen.» Er ergänzt, dass es einige Schafherden gebe, die sich nicht an Hunde gewohnt sind. Er stelle bei diesen Schafen schon eine Unruhe fest, wenn sie mit den eigenen Hütehunden in der Nähe sind.
Marugg berichtet von einer Nachbaralp mit Jungvieh und Mutterkühen, wo sich die Tiere deutlich anders als normal verhalten. Deswegen wurde der Wanderweg von den Alpbetreibern gesperrt. Dagegen intervenierten die Gemeinde, die Betreiber eines Bergrestaurants und der SAC-Hütte. «Sie sehen die Problematik», sagt Marugg. «Wir haben viele Interessengruppen, da müssen irgendwo Abstriche gemacht werden. Die Frage ist einfach, wo.»
Regulierung der Problemwölfe
Marugg hält fest – wohl stellvertretend für alle Älplerinnen und Älpler in diesem Land –, dass es in der Schweiz eine Regulierung der Wolfsbestände braucht und zwar bevor der Wolf Schaden anrichtet. Er glaubt, dass man dann weniger Problemwölfe hat. Als «Problemwölfe» bezeichnet Marugg diejenigen Wölfe, die wie auf seiner Alp im Blutrausch zahlreiche Tiere verletzen, ohne sie zu töten. Das nächste Problem sieht er bereits kommen.
«Was, wenn der Wolf irgendwann eine Kuh oder ein Kalb reisst? Dann können wir einpacken, denn die Kühe werden auf alles und jeden losgehen, der auch nur in die Nähe der Herde kommt.»
Marugg befürchtet auch, dass der Wolf, wenn er im Winter keine Nahrung mehr findet, immer näher an die Ställe kommt. Dann sei es nur noch eine Frage der Zeit, dass man die Tiere nicht einmal mehr mit hohen Zäunen schützen könne.
Beim Fuchs funktioniert es auch
«Ich verstehe nicht, warum der Schutz des Wolfes höher gewichtet wird, als jener eines Nutztieres. Ist denn ein Schaf weniger wert als der Wolf?» Wenn es mit dem Wolfsschutz und der Rudelbildung so weiter gehe, müsse man den Wolf irgendwann radikal regulieren. So weit müsse es aber nicht kommen, findet Marugg. «Den Fuchs jagen wir ja heute auch systematisch. Aber davon redet niemand.» Was beim Fuchs funktioniere, funktioniere auch beim Wolf, ist er überzeugt. «Auch den Wolf könnte man auf der Hochjagd zum Abschuss freigeben. Bis man einen Wolf erwischt, dauert es ohnehin lange», hält er den Wolfschützern entgegen.
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Die Zukunft ist ungewiss
Einen Plan für den nächsten Alpsommer haben Roman Marugg und seine Kollegen nicht. «Wir sind mit dem Kanton und dem Plantahof im Gespräch, ob und welche Lösungen es gibt, um die Bestossung aufrecht zu erhalten.» Wahrscheinlich wird es darauf hinauslaufen, dass in Zukunft vier bis fünf Herdenschutzhunde die Schafherden bewachen. Dem stimmt Marugg erst zu, wenn sämtliche offene Fragen und die Haftung geklärt sind. «Sonst sind wir wieder gleich weit wie dieses Jahr und dann höre ich auf, auch wenn mir die Alp sehr am Herzen liegt.» In diesem Fall gäbe es für ihn zwei Varianten, wie er sagt: Entweder gibt er die Schafhaltung auf oder er sucht sich eine eigene Lösung.
Bündner Bauernverband lädt zu einem Podium
Am 29. August findet ein öffentliches Podium «Wolf und Herdenschutz – die Grenzen» statt. Ort: Forum Ried, Schulstrasse 78, Landquart. Zeit: 13.30 bis 17 Uhr.
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