Diesen Winter sind zum zweiten Mal Wildhüter auf der Pirsch, um präventiv bewilligte Wolfsabschüsse auszuführen. Damit will der Bundesrat zukünftige Schäden an Nutztieren mindern. Ob das gelingt, ist allerdings umstritten. Die Stiftung Kora vertritt die Meinung, aus wissenschaftlicher Sicht könne die Wirksamkeit jetzt noch nicht abgeschätzt werden und will sie in den kommenden Jahren untersuchen.
«Stabilisiert wirksam»
Marcel Züger sieht das anders. Der Biologe hat als Wolfsgegner und Autor einer Studie zum Stand der Biodiversität im Auftrag des Schweizer Bauernverbands (SBV) einiges an Bekanntheit erlangt. Er wendet sich mit einer Mitteilung an die Medien und schreibt, die Entnahme von Leittieren oder ganzen Wolfsrudeln stabilisiere wirksam sowohl den Wolfsbestand als auch Risszahlen. «Dies zeigt eine Auswertung der vergangenen Jahre», so Züger. Er hat die offiziellen Zahlen von Kora und der Kantone analysiert und stützt sich unter anderem auf die sinkenden Abschussschwellen.
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Bis 2004 musste ein Einzelwolf 50 Nutztiere gerissen haben, um zum Abschuss freigegeben zu werden. «Die Schadschwelle wurde laufend reduziert, die Entnahmekriterien differenziert», erläutert Züger. Im Winter 2023/24 bewilligte das Bundesamt für Umwelt (Bafu) erstmals Abschüsse ganzer Rudel, die allerdings nur zum Teil vollständig erlegt werden konnten. Die Warnung von Umweltverbänden, übrig gebliebene Rudelmitglieder würden hohe Folgeschäden verursachen, habe sich nicht bewahrheitet. «Vielmehr gingen in sämtlichen betroffenen Territorien die Nutztierrisse leicht bis sehr deutlich zurück.»
Marcel Züger analysiert weiter, in Jahren mit Abgängen von Leittieren oder hoher Wolfssterblichkeit seien die Risszahlen in der Regel gesunken oder stagniert. Das gilt allerdings nicht für die Jahre 2017 und 2018. Trotzdem: «Der Rückgang der Nutztierrisse korreliert mit der Intensität der Wolfsregulation», so Zügers Schlussfolgerung.
Erfahrungen aus Kärnten
Er verweist auf das österreichische Bundesland Kärnten, wo kein systematischer Herdenschutz betrieben werde und die Erfahrungen «deckungsgleich» seien. Wie ORF im vergangenen November schrieb, wurden in Kärnten mit 15 Stück mehr Wölfe als in allen anderen Bundesländern Österreichs erlegt. Weiterhin würden aber Wölfe zuwandern, heisst es in diesem Artikel. Die Risszahlen seien seit Inkrafttreten der Verordnung, welche die Abschüsse ermöglicht, leicht zurückgegangen, wird der Kärntner Landes-Wolfsbeauftragte zitiert. Das liege aber zum Teil daran, dass viele ihre Tiere nicht mehr auf die Alp treiben würden. Auch die Wolfssichtungen seien zurückgegangen, ein Zusammenhang zu den Abschüssen müsste man aber genauer untersuchen, sagte der Wolfsbeauftragte.
«Mehr Abschüsse bedeuten nicht weniger Nutztierrisse», schreiben Pro Natura, WWF, die Gruppe Wolf Schweiz und Birdlife in ihrem «einordnenden Medien-Handout». Sie machen «Studien und Erfahrungen» geltend, wonach die Effektivität von Abschüssen nicht nachgewiesen sei, jene des Herdenschutzes hingegen schon.
Von 42 auf 4 Risse pro Wolf
Das zeige sich etwa daran, dass die Anzahl Risse pro Wolf in den letzten 23 Jahren von 42 auf 4 gesunken sei, so der WWF. «Die Wirkung der Herdenschutzmassnahmen wird in der Schweiz nicht fundiert untersucht», konstatiert Marcel Züger. Er zitiert Daten aus dem Kanton Graubünden von 2022 und 2023, wonach zwar bei etwa 70 Prozent der Nutztierrisse Herdenschutzmassnahmen vorhanden waren, aber nur bei 12 Prozent vollständig intakt. Um effektiv wirken zu können, müsste dies aber immer der Fall sein, da Wölfe systematisch nach der buchstäblichen Lücke im Zaun suchen würden.
«Herdenschutz im Gebirge oder überhaupt in Grenzertragslagen ist per se fehleranfällig», ergänzt Züger. Durchziehendes Wild, Steinschlag, Sturm und Schnee, für Herdenschutzhunde unübersichtliches Gelände oder schwierige Bedingungen beim abendlichen Zusammentreiben könnten das Abwehrdispositiv schwächen. Die Umweltverbände fordern «Abschüsse nur, wo sinnvoll und nötig», namentlich wo «ein etablierter Herdenschutz situativ nicht greift». Marcel Züger schreibt, verschärfte Massnahmen würden oft nur von beschränkter Dauer sein. Das hätten Erfahrungen mit Wolfsentnahmen in Frankreich und mit dem Herdenschutz in der Schweiz «vielfach deutlich gemacht.»
Ursache und Wirkung trennen
Von 2022 bis 2024 sei die Anzahl gerissener Nutztiere um 89 Prozent gesunken, rechnet der Bündner Biologe vor, wie sich das Wolfsmanagement im österreichischen Kärnten ausgewirkt habe. In diesem Zeitraum wurden dort insgesamt 17 Wölfe abgeschossen. Die Entnahmequote sei aber «verhältnismässig tief» gewesen. Eine Studie habe vor 20 Jahren Quoten von 25–50 Prozent angegeben, um den Wolfsbestand zu stabilisieren. Für Marcel Züger steht fest, dass die Entnahme von Schadwölfen hierzulande die erwünschte Wirkung gezeigt und die Risszahlen gesenkt hat. Ob das aber auch in Zukunft funktioniere, könne zum jetzigen Zeitpunkt nicht beantwortet werden.
Damit geht er zumindest in Teilen einig mit Kora, die allerdings vor einfachen Korrelationsanalysen warnt. Da müsse man vorsichtig sein, da sich Ursache und Wirkung nicht trennen liessen. Um Aussagen zur Wirksamkeit von Massnahmen machen zu können, müssten verschiedene Faktoren wie Veränderungen in der Verfügbarkeit von Beutetieren oder im Herdenschutz, die Aufgabe von Alpen oder die Umsiedlung von Nutztieren in eine andere Region berücksichtigt werden.
Marcel Züger hält es für wahrscheinlich, dass die bisherigen Massnahmen an Wirksamkeit verlieren werden, respektive das Wolfsmanagement weiter verschärft werden müsse. Das passt zur Haltung des SBV und des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands (SAV), die angesichts der neusten Monitoringdaten zu weiter wachsenden Wolfsbeständen in der Schweiz vergangenen Dezember «dringlichst» eine Effizienzsteigerung bei der Regulierung gefordert haben: Wölfe mit unerwünschtem Verhalten müssten «sofort und ohne administrative Hürden» entnommen werden können.
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