Noch bis Ende Januar können Wildhüter vom Bundesamt für Umwelt bewilligte, präventive Wolfsabschüsse ausführen. Die Gruppe Wolf Schweiz (GWS) kritisiert zwar Fehlabschüsse und fordert eine sorgfältigere Regulierung nach dem Vier-Augen-Prinzip, lehnt sie aber nicht generell ab. Dies im Gegensatz etwa zu CH Wolf oder Avenir Loup Lynx. «Bei diesen Wolfsbefürwortern gelte ich als Verräter», sagt David Gerke. «Auch, weil die GWS für einen Kompromiss bei der Revision des Jagdgesetzes mit dem Bauernverband zusammengearbeitet hat.»
Er hält seit 19 Jahren Schafe
Die GWS bezeichnet sich selbst als «Stimme der Grossraubtiere in der Schweiz». David Gerke ist als Geschäftsführer Stimme und Gesicht der Gruppe. Er führt zusammen mit seiner Frau Bea in Biembach BE einen Nebenerwerbsbetrieb mit 50 Schafen. «Ich arbeite seit 19 Jahren mit Schafen», hält Gerke fest und streichelt sanft eines seiner Tiere. Dank zehn Sommern als Schafhirte auf der Alp sowie seiner Erfahrung als Tierhalter und Betriebsleiter ist er überzeugt: «Ich kann alle Sorgen von Bauern nachvollziehen – auch wenn ich vielleicht andere Antworten gebe.» Er habe Mühe damit, wenn ihm Praxisferne vorgeworfen werde.
Gerkes haben ihren Biohof Kleinegg seit der Übernahme vor drei Jahren nach ihren Ideen gestaltet. In der steilen Hostet grasen Schafe, auf der weiten Weide eine 50-köpfige Damhirsch-Herde, junge Bäume stehen noch zum Pflanzen bereit. Es beschäftigen sie aber in der Landwirtschaft bestens bekannte Themen wie hohe Arbeitsbelastung, Konflikte mit dem Raumplanungsgesetz, Fragen zur Wirtschaftlichkeit und kranke Tiere.
Fasziniert vom Wolf
Beim Wolf vertritt der GWS-Geschäftsführer aber klar eine andere Meinung als viele Schafhalter. Schafe hätten die perfekte Grösse, findet David Gerke. «Sie sind gut handzuhaben, brauchen kein Kraftfutter und sind daher bei korrekter Weideführung ökologisch», erklärt er. Aber auch der Wolf fasziniert den Jäger, seit der erste wieder eine Pfote in die Schweiz gesetzt hat. Die Themen Schaf und Wolf gehören für ihn zusammen – und damit der Herdenschutz zur Alpwirtschaft.
«Herdenschutz hat Tradition», sagt David Gerke. Historisch gebe es in der Schweiz zwar keine Hirten-, sondern eine Sennentradition und deshalb auch keine richtigen Herdenschutz-, sondern Sennenhunde. «Ganze Familien waren mit all ihrem Vieh auf der Alp und haben es eng beaufsichtigt», schildert Gerke. «Niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die Tiere einfach in den Bergen ohne Aufsicht auszusetzen.» Die Betreuung der damals kleinen Schafherden sei immer gewährleistet gewesen. Vor 150 Jahren habe man besser zu Schafen und Ziegen geschaut, weil sie als Woll- bzw. Milchlieferanten existenziell für das Überleben der Bauern waren. Dieser Herdenschutz wurde aus (wirtschaftlicher) Notwendigkeit betrieben, «nicht aus Freude am Zusammenleben mit dem Wolf».
Herden kompakt führen
Bäuerliche Kreise betonen, es werde bereits alles Machbare zum Schutz der Herden getan, der Herdenschutz sei aber am Anschlag. David Gerke bezweifelt das – ohne Kosten und Aufwand für Zäunen, Weideführung oder Behirtung infrage zu stellen. «Aber Herdenschutzhunde können Schafe nur dann schützen, wenn die Herde kompakt geführt wird», ergänzt er, «das ist die Hauptaufgabe für Hirten hierzulande.» Jedoch seien Herdenschutzhunde (HSH) erst auf 20 % der Schafalpen im Einsatz.
Der Verteidigungsschuss könne zwar laut einer französischen Studie kurzfristig weitere Risse verhindern. Aber nicht wegen geschossener Wölfe, sondern der nächtlichen Präsenz von Personen bei der Herde. «Wölfe sind von Natur aus vorsichtig und misstrauisch. Wenn man einen Wolf anschreit, wird er sich davonmachen», sagt David Gerke. Da aber kaum rund um die Uhr jemand Wache halten kann, brauche es HSH und nicht zu gross bemessene Nachtpferche. «Fehlende kompakte Herdenführung kann nicht mit einer grösseren Anzahl Schutzhunden kompensiert werden», warnt der Ökologe.
Bei Verletzungen dieser Hunde sei zu bedenken, dass sie ihre Konflikte selbst lösen. Da kann es rabiat zugehen, wie Gerkes eigene HSH beweisen. Canellos Ohr ist tief eingerissen, so friedlich er und der schwarze Nero sich beim Besuch und im Umgang mit den Schafen auch geben. Einem erfahrenen Züchter von HSH zufolge könnten Rangkämpfe auch tödlich enden, erzählt Gerke. «Wölfe gehen den Weg des geringsten Widerstands. Kämpfe mit HSH drohen vor allem, wenn der Wildbestand tief ist und sich das Risiko daher lohnt.» Davon sei die Schweiz noch weit entfernt.
Das Alltägliche des Herdenschutzes müsse für die Alpbewirtschaftenden machbar sein, was der Fachkräftemangel erschwert. «Freiwillige Helfer sind eine sinnvolle Ergänzung», so der GWS-Geschäftsführer. Die GWS ist an Freiwilligenprogrammen beteiligt, die Gerke auch als Chance für einen Realitätscheck städtischer Wolfsromantiker sieht.
Motivation versus Argumente
Denn aller Faszination zum Trotz, Romantik bringt David Gerke von seiner Seite im Gespräch über den Wolf nicht ins Spiel. «Wirtschaftlich gesehen sind Wölfe für mich im Moment das kleinste Problem», meint er mit Blick auf seinen eigenen Betrieb. Zäune hätte er sowieso aufstellen müssen. Zwar vielleicht die billigere, nicht wolfssichere Variante, aber auf eigene Rechnung. Bei Herdenschutzzäunen trage der Bund die Kosten für das Material. Seine beiden HSH sind Tierschutzfälle und stammen aus einer Beschlagnahmung. Beiträge bekommen Gerkes bisher keine für sie.
«Ich muss beim Wolf unterscheiden zwischen meiner persönlichen Motivation und objektiven Argumenten», ist sich der studierte Jagdwirt bewusst. Einerseits fasziniert ihn das Grossraubtier und seine lange Geschichte mit dem Menschen. Andererseits schätzt Gerke Wölfe als Gegenspieler von Rehwild und Rothirschen. Auf das Ökosystem habe der Wolf einen grossen Einfluss, fährt er fort. «Im 21. Jahrhundert sollte man verstehen, dass ein funktionierendes Ökosystem einen Wert hat. Auch einen wirtschaftlichen.»
«Grösster Teil der Bevölkerung hat werde die Tiere noch ihre Spuren gesehen»
Die psychologische Komponente ist in der Wolfsdebatte sehr präsent. «Die Angst vor Wölfen kann man nicht mit Argumenten ausräumen», weiss David Gerke. In dieser Hinsicht sei er naiv gewesen in dem Glauben, mit Schulbesuchen der nächsten Generation diese Angst nehmen zu können. Wie bei anderen Ängsten wäre seiner Meinung nach eine Expositionstherapie – also der Kontakt zum Wolf – der beste Ansatz. «Wir haben seit 30 Jahren wieder Wölfe in der Schweiz, aber der grösste Teil der Bevölkerung hat weder die Tiere selbst noch ihre Spuren gesehen oder sie einmal heulen gehört.»
Es gelte, zu lernen, dass Wölfe nicht hinter Bäumen lauern und Menschen angreifen. Trotzdem, Angriffe gab und gibt es – Gerke betont aber, dass diese sich in ganz anderen Kontexten als den heutigen und hiesigen ereigneten. «Die wichtigsten Muster sind Tollwut, fehlendes Wild als Beute und Wölfe, die von Menschen gefüttert worden sind», erklärt der GWS-Geschäftsführer. Angriffe auf Menschen drohten deshalb in der Schweiz nicht.
Schafrisse passieren in den Streifgebieten von Wölfen hingegen immer wieder. David Gerke relativiert aber deren Häufigkeit. «Ich habe als Schafhirt auf der Alp über die Jahre durchschnittlich 500 Schafe betreut und verzeichnete zwei 2–3 % Verluste. Das liegt im Schweizer Durchschnitt.» Er habe viele Krankheiten gesehen und einmal wegen Verwurmung 70 Tiere in einem Sommer verloren. Da seien auch Auen neben ihren hungrigen Lämmern «jämmerlich verreckt.» Risse seien nicht weniger schlimm, aber Verluste kämen in den besten Schafhaltungen vor. Gerke zitiert Daten von Identitas und sagt, 2023 habe es schweizweit 48 000 Abgänge und 1000 Risse gegeben. «Man muss sich einfach bewusst sein, dass man bei rund 400 000 Schafen hierzulande jedes Jahr ein paar Zehntausend verliert.» Der Wolf sei aber schlicht nicht der Hauptschudlige dafür.
Nicht gegen alle Abschüsse
Die GWS ist sicher, dass Herdenschutz funktioniert und bei konsequenter Umsetzung mit Zäunen, Schutzhunden und kompakter Herdenführung das Zusammenleben mit dem Wolf gelingen kann. Dafür brauche es angemessene finanzielle Unterstützung. «Wölfe werden aus politischen, nicht biologischen Gründen reguliert», meint David Gerke. Ohne Abschüsse würde sich der Bestand über die Verfügbarkeit von Wild als Beute selbst einpendeln, für Gerke sind Eingriffe aber als Interessensausgleich «nicht verkehrt». Rudel hätten gegenüber Einzelwölfen den Vorteil, dass sie territorial und berechenbarer seien, da es sich immer um dasselbe Wolfspaar handelt. «Das kann man quasi erziehen. Einzelwölfe werden rasch durch andere, unerzogene ersetzt.»
Während er manchem Wolfsbefürworter nicht weit genug geht, finden Wolfsgegner David Gerke extrem. In den Medien komme er oft radikaler rüber, als er sei, so Gerke. «Ich habe mich daran gewöhnt, finde es aber blöd.» In der Tagesschau müsse er seine Botschaft zugespitzt in zehn Sekunden formulieren. Die GWS entwickle sich mit steigenden Mitgliederzahlen und medialer Aufmerksamkeit gut, «für mich bleibt aber ein Gefühl des Missverstandenwerdens. Ich finde es schade, wenn ich von bäuerlicher Seite als Extremist gesehen werde.»
Die Gruppe Wolf Schweiz
Die Gruppe Wolf Schweiz (GWS) ist laut David Gerke die grösste Wolfsschutzorganisation der Schweit mit rund 1600 Mitgliedern. Sie wurde 1997 als Reaktion auf die Rückkehr der ersten Wölfe gegründet und hat fünf Haupt-Tätigkeiten:
Engagement: Politische und rechtliche Aktivitäten.
Information: Öffentlichkeitsarbeit via Medien, Website, Newsletter, Exkursionen usw.
Herdenschutz: Projekte mit Freiwilligen, direkte Unterstützung für Älpler(innen).
Wolfsmonitoring: Punktuell und ergänzend zu kantonalen Überwachungen.
Bekämpfung von Wilderei: Fokus auf Wölfe und Luchse.
Die Finanzierung läuft über Mitgliederbeiträge, Spenden und Projektbeiträge. Gelder von der öffentlichen Hand erhält die GWS keine. David Gerke ist in einem Teilzeitpensum als Geschäftsführer angestellt.
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