Handschlag? Das war gestern. «Möchten Sie?» fragt Elizabeth Rosario Rivas stattdessen, und streckt den Besuchern ein Fläschchen mit Desinfektionsmittel entgegen.
Ihr Büro gleich neben der Heiliggeist-Kirche in Interlaken ist hell und zweckmässig eingerichtet. An der einen Wand hängt ein grosses Kreuz. An einer anderen drei Fotos. Sie zeigen Palmen, üppige Blüten und eine tropische Abendstimmung. «Da komme ich her», erklärt die Sozialarbeiterin. Sie ist in der Nähe der Stadt Salcedo im Innern der Dominikanischen Republik aufgewachsen. «Es ist zwar sehr schön, aber dort gibt es nichts.»
Von vorne anfangen
Elizabeth Rosario Rivas kam vor zehn Jahren für ein Masterstudium in die Schweiz. In ihrer Heimat hatte sie bereits einen Bachelor in Schulpsychologie. Doch der galt hier nicht. «Ich musste nochmals von Null anfangen.»
Sie schrieb sich an der Universität Freiburg für Sozialarbeit und Sozialpolitik ein. In einem Berner Altersheim fand sie einen Job als Küchenhilfe. Ihrer Familie auf der fernen Insel erzählte sie kaum etwas über die schwierige Situation. «Ich schämte mich ein bisschen. Meine Mutter hat mir so viel geholfen, damit ich studieren konnte, und nun stand ich hier und wusch Teller ab.»
Durchgehalten
Elizabeth Rosario Rivas hielt durch. Sie lernte Deutsch und konnte dadurch in der Cafeteria des Heimes arbeiten. Sie schloss auch das zweite Studium ab und fand einen ersten Job als Sozialarbeiterin in einem Jugendheim.
Seit drei Jahren betreut sie nun die neu gegründete «Fachstelle Diakonie» der Katholischen Kirche im Berner Oberland. «Wir bekamen immer mehr Anfragen von Hilfesuchenden», erzählt der Interlakener Gemeindeleiter und Diakon Stefan von Däniken zum Projekt. «Trotz der guten staatlichen Hilfe in der Schweiz fallen viele Menschen durch das Netz. Wir brauchten einen Profi.»
Hilfsangebot fürs Oberland
Die Fachstelle Diakonie betreut Menschen in den Oberländer Gemeinden Interlaken, Thun, Spiez, Gstaad, Frutigen und Meiringen. Die Hilfe ist unabhängig von Religion, Weltanschauung und Aufenthaltsstatus. Die Stelle arbeitet subsidiär. Das heisst, sie kann nur angefragt werden, wenn die Möglichkeiten anderer sozialer Organisationen ausgeschöpft sind.
Zum Beispiel, wenn eine alleinerziehende Mutter für ihre drei Kinder Winterkleider braucht. Oder wenn alle drei Kinder wegen der Corona-Krise immer daheim essen und dies das schmale Sozialhilfebudget sprengt.
«Ich habe daher viel Kontakt zu anderen sozialen Institutionen», sagt Elizabeth Rosario Rivas. «Das ist ein Muss bei unserer Arbeit.» Daher besuchte sie die ersten sechs Monate alle Schulen und sozialen Organisationen des Berner Oberlandes, um die Arbeit der neuen Fachstelle vorzustellen.
Schwierige Arbeitsbedingungen
Da die Tourismus-Saison auf wenige Monate im Sommer und im Winter beschränkt ist, haben viele Angestellte im Oberland nur Teilzeitjobs oder arbeiten im Stundenlohn. Durch die Corona-Krise fielen viele dieser Jobs weg. Elizabeth Rosario Rivas erzählt von fünf Angestellten einer Reinigungsfirma, denen gekündigt wurde. Selbst mit einem 100 Prozent Pensum verdienten die Frauen nur 2800 Franken.
«Mit dem Geld von der Arbeitslosenkasse kommen sie nicht über die Runden.» Immer wieder bekommt sie dieser Tage Anfragen von Menschen, die Arbeit suchen. Doch es sind kaum Stellenangebote ausgeschrieben.
Elizabeth Rosario Rivas ist oft mit dem Postauto und der Bahn unterwegs, um die sieben Pfarreigemeinden zu besuchen. Die Anfragen kommen aber auch zu jeder Tages- und Nachtzeit via Mobiltelefon oder E-Mail. Ihr Arbeitshandy lässt sie daher am Abend im Büro. Das fiel ihr am Anfang schwer. «Ich wollte möglichst vielen Menschen möglichst rasch helfen, gerade wenn Kinder involviert sind. Doch das geht leider nicht immer.»
Vermitteln und unterstützen
Die Sozialarbeiterin schreibt Empfehlungen, versucht bei der Wohnungssuche und bei Ämtern zu vermitteln, hilft bei Bewerbungen. Neben Schweizern melden sich auch Migranten, die in Hotels und Restaurants arbeiten.
Da sie selbst in die Schweiz eingewandert ist, kann Elizabeth Rosario Rivas deren Probleme gut nachvollziehen. «Viele Migranten stehen vor geschlossenen Türen. Das habe ich selbst erlebt. Nur mit Mühe fand ich meine erste Wohnung. Mein Name klang fremd. Meine Sprache klang fremd.»
Vorurteile rasch entkräftet
Da die 30-Jährige fünf Sprachen spricht, kommt sie mit den Menschen schnell in Kontakt. «Elizabeth verfügt über eine gute Mischung aus Sozialkompetenz, Fachwissen und Klarheit», sagt ihr Chef, Diakon von Däniken. In der ersten Zeit hätten einige Männer Bedenken gehabt, als eine junge Frau aus der Karibik vor ihnen stand. «Doch die merkten schnell, dass die neue Sozialarbeiterin nicht auf den Mund gefallen ist.»
Neben Geld- und Jobsorgen leiden viele Migranten unter Einsamkeit. Auch das kennt Elizabeth Rosario Rivas aus ihrer Zeit in der Küche des Altersheims. Die Arbeitskollegen waren ebenfalls Migranten, deren Sprache sie nicht verstand. «Ich sass nach meinen Schichten viel allein in meinem Zimmer und weinte.»
Was half? «Deutsch lernen. Sich nicht selbst bemitleiden. Und ein bisschen so tun als ob». So griff Elizabeth Rosario Rivas auf S-Bahn-Fahrten immer nach einer «20 Minuten»-Zeitung, obwohl sie kein Wort des Inhalts verstand. «Alle anderen machten das auch. Ich wollte dazugehören.»
Nicht darüber reden
Natürlich gebe es im Oberland auch Schweizer, die Unterstützung benötigen würden. «Aber sie geben es nicht gerne zu. Auch von Armut betroffene Menschen haben ihren Stolz.» Das sei wohl Teil der Schweizer Kultur.
In der Dominikanischen Republik sei das ganz anders. Da es keine staatliche Hilfe und kaum Sozialhilfe gibt, spricht man offen über seine Not. «Man ist auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen und bekommt sie auch.»
Dass ihr Arbeitgeber die Katholische Kirche ist, empfindet Elizabeth Rosario Rivas als stimmig. Sie kennt die Skandale und die kritischen Stimmen. «Doch für mich ist es ein Arbeitgeber wie jeder andere. Ich spüre keinen religiösen Druck.»
Gewachsene Verbindung
Zudem ist sie mit dem katholischen Glauben aufgewachsen, er ist in der Dominikanischen Republik stark mit der Kultur verbunden. «Ich glaube an Gott. Wenn uns nichts mehr übrig bleibt, haben wir noch den Glauben als Stütze. Das gibt Vertrauen.» So habe sie es von ihren Grosseltern mitbekommen, und von ihren Tanten und Cousinen, die sie wie zusätzliche Mütter empfunden hat.
Zu ihre Familie in der Karibik pflegt Elizabeth Rosario Rivas regelmässigen Kontakt. Aber sie fühlt sich inzwischen in der Schweiz daheim. Sie schätzt die Möglichkeiten und Freiheiten ihrer neuen Heimat. «Hier konnte ich meine Träume verwirklichen. Hier fühle ich mich sicher, auch wenn ich am Abend mal allein unterwegs bin.» Und sie liebt die Natur des Berner Oberlandes.
Nicht zu viel anpassen
Seit letztem Herbst ist Elizabeth Rosario Rivas zudem verheiratet, mit einem gebürtigen Italiener. Die Italiener seien charmant, familienbezogen, unkompliziert und etwas chaotisch, meint sie. «Das passt. Wir sind uns von der Kultur her sehr ähnlich.» Sie freut sich darauf, eine eigene Familie zu gründen.
Die Freude über die neue Heimat ist bei Elizabeth Rosario Rivas spürbar. Ihren Ursprung in der Karibik hat sie aber nicht vergessen. Ihre temperamentvolle Seite lebt sie beim Zumba-Training und beim Salsa-Tanzen aus. Dort hat sie auch ihren Mann kennengelernt. «Beim Tanzen bin ich wieder in der Karibik. Sich anpassen ist wichtig, aber man darf seine Kultur nicht vergessen, sonst ist man wirklich verloren.»
Fachstelle Diakonie
Zur «Fachstelle Diakonie» der Katholischen Kirche im Berner Oberland gehören sieben
Pfarreien: Heiliggeist Interlaken, St. Josef Gstaad, Bruder Klaus Spiez, St. Marien Thun, St. Martin Thun, Guthirt Meiringen und St. Mauritius Frutigen.
Kontakt über
Elizabeth Rosario Rivas
079 586 02 29 oder
sozialarbeit.beo(at)kathbern.ch