Schon bald beginnt wieder die Alpsaison. Auch für Anselm Casanova aus Obersaxen GR, der 30 Mutterkühe und etwa ebenso viele Kälber hält. Im Juni wird er seine Herde wie gewöhnlich auf eine höher gelegene Alp geben, diesmal allerdings mit gemischten Gefühlen. Grund dafür sind Wölfe, die letztes Jahr im Gebiet von Obersaxen mehrmals Mutterkuhherden in Aufruhr gebracht hatten.

Eine Mutterkuhherde in Panik

Ein solches Ereignis fand auch Ende Oktober letzten Jahres direkt neben seinem Wohnhaus statt, wo die Herde weidete. «Es war kurz vor sechs Uhr morgens, als die Kühe zu schreien anfingen. Sie waren plötzlich in Panik geraten, rannten auf der umzäunten 4 ha grossen Weide wie verrückt hin und her und waren völlig ausser Kontrolle», erzählt Casanova. «In der Dunkelheit war nichts zu sehen, aber ein Wolf oder auch mehrere müssen sich unmittelbar in der Nähe aufgehalten haben.» So etwas habe er zuvor noch nie erlebt, es dauerte eine Weile, bis sich die Tiere wieder beruhigt hatten. Doch auf den Hirtenhund, mit dem sie vertraut sind, hätten sie noch lange gereizt reagiert.

Casanova ist beunruhigt, wenn er daran denkt, dass es kommende Saison erneut Störungen und Angriffe durch Wölfe gibt, wenn bald wieder zahlreiche Mutterkuhherden im Alpgebiet von Obersaxen gesömmert werden. «Eine panische Herde ist sehr gefährlich. Sonst zahme Kühe trampeln alles nieder, auch Zäune stellen dann kein Hindernis mehr dar.» Die Gefahr drohe nicht nur den Hirten und Bauern, sondern auch den Bikern und Wanderern, teilweise mit Hunden, die sich im Gebiet aufhalten.

Die Hoffnung auf das Jagdgesetz

Um sich für ihre Sorgen Gehör zu verschaffen, unterzeichneten Anselm Casanova und 40 weitere Mutterkuhhalter im Februar einen offenen Brief an Simonetta Sommaruga, indem sie eine sofortige Entnahme des Val Gronda-Rudels bei Obersaxen forderten. Die Bundespräsidentin antwortete darauf, sie nehme das Anliegen ernst. Unter anderem werde sich die Arbeitsgruppe «Rindvieh und Grossraubtiere» dem Problem annehmen. Zudem verwies Sommaruga auf das revidierte Jagdgesetz, das eigentlich am 17. Mai vor das Volk gekommen wäre, was nun verschoben werden muss. Mit diesem würde es möglich, Wolfsrudel unter bestimmten Bedingungen zu regulieren.

Innerhalb von wenigen Jahren hat der Wolfsbestand in Graubünden durch die Bildung von Rudeln stark zugelegt. Zurzeit leben auf dem Kantonsgebiet etwa 25 bis 30 Wölfe, allein in der Surselva sind es mindestens 15 bis 20 Tiere. Nebst den bekannten Rudeln am Calanda, Ringelspitz, Biz Beverin und im Val Gronda gibt es Anzeichen dafür, dass in der oberen Surselva ein weiteres Rudel im Entstehen ist. «Es ist typisch für den Wolf, dass er direkt angrenzende Rudel bildet», sagt der Bündner Jagdinspektor Adrian Arquint. «Dass er sich besonders in der Surselva anzusiedeln begann, ist wohl Zufall. Doch hier scheint er sich wohlzufühlen, er findet genügend Rückzugsmöglichkeiten und Nahrung.» Nach seinen Angaben gingen letztes Jahr dennoch alleine 38 Schafrisse auf das Konto des Val Gronda-Rudels. Im ganzen Kanton starben 127 Schafe und Ziegen durch Wölfe, deutlich mehr als in den Vorjahren. Bei den Rindviehherden gab es bisher keine Risse. 2018 wurde ein Kalb, das im Alpgebiet verendet ist, von Wölfen gefressen. Der Jagdinspektor weist darauf hin, dass es überall im Kanton zu Vorfällen kommen könne, auch durch Wölfe, die einzeln umherstreifen. Die konzentrierte Rudelbildung in der Surselva sei aber schon eine neue Situation, die eine Herausforderung für alle darstellt, insbesondere für die Landwirtschaft.

Beim Rindvieh wurden mehr Vorfälle gemeldet

Es ist eine der Aufgaben der Wildhut, wo immer möglich auch Massnahmen zu ergreifen, damit der Wolf seine Scheu vor dem ­Menschen nicht verliert. Beispielsweise mit Vergrämungsschüssen, wenn Wölfe in Siedlungsnähe auftauchen. Doch diese gezielt und im richtigen Moment einzusetzen, sei schwierig, so Adrian Arquint. Unterstützung bietet jedoch ein Alarmsystem per SMS, das letztes Jahr im Kanton flächendeckend eingeführt wurde. Es dient dazu, Viehhalter und Alpverantwortlichen, Nutztierrisse und Wolfssichtungen in eher wolfsfreien Gebieten sofort zu melden.

Im Kanton Graubünden führt der Plantahof eine Meldestelle für auffälliges Verhalten beim Rindvieh. Töni Gujan, der zuständige Berater, stellt eine beunruhigende Entwicklung fest: «Seit sich Wölfe vermehrt ausbreiten, werden auch mehr Vorfälle gemeldet. Dabei geht es weniger um direkte Begegnungen zwischen Kuh und Wolf. Es geht vielmehr um Herden, die möglicherweise von einem Bären, Schakal, Wolf oder einem ganzen Wolfsrudel verängstigt wurden und sich auffällig verhalten.»

Jan Boner, Herdenschutzberater am Plantahof, bestätigt, dass auch beim Rindvieh erfolglose Angriffe zu grosser Unruhe und Verhaltensveränderungen führen können. In der Folge könnten ganze Herden unkontrolliert auf Strassen und Wege gelangen. Das sei sehr besorgniserregend und mit grossen Gefahren verbunden, betont er. «Nutztiere flippen aber nicht prinzipiell aus, nur weil ein Wolf auftaucht. Es kommt auf den Wolf und sein Lernverhalten an. Je erfolgreicher er Beute macht, desto zielstrebiger und schneller finden die Attacken statt, oftmals ausserhalb des Herdenverbandes. Je unerfahrener und tölpelhafter sein Auftritt in der Herde ist, desto grösser könnte das Durcheinander sein.»

Die Situation bleibt angespannt

Jan Boner hält den Einsatz von Herdenschutzhunden (siehe Kasten links) für die derzeit einzig effektive und langfristig wirksame Vergrämungsmassnahme, gerade weil die Hunde selbstständig 24 Stunden an Ort und Stelle aktiv wirken. Das kontrollierte Abkalben ausserhalb der Sömmerung verringere zwar möglichen Schaden. Raubtiere mit ihren guten Nasen witterten die Geburten von weit her und kämen näher, auch wenn die Geburten kontrolliert in Hüttennähe stattfinden würden. Aufgrund der Marktnachfrage sei es jedoch für viele Betriebe fraglich, ob es sich noch lohnt, sich ausschliesslich auf Winterkälber zu ­beschränken, so der Herdenschutzberater. Solange keine nachhaltigen Lösungen gefunden werden, um die Wölfe fernzuhalten, bleibt die Situation angespannt. Anselm Casanova meint dazu: «Ich will auf keinen Fall, dass jemand durch eine unkontrollierbare Mutterkuhherde zu Schaden kommt.»

Weitere Informationen: Meldestelle für auffälliges Verhalten beim R­indvieh, Fachstelle Alpwirtschaft, Plantahof, Tel. 081 257 60 85.

 

Herdenschutzhunde für Mutterkühe

In vielen Gegenden Ost­europas hat der Einsatz von ­Herdenschutzhunden unterschiedlichster Rassen seit Jahrhunderten Tradition und ermöglicht zusammen mit Abschüssen von Raubtieren erfolgreiches Wirtschaften mit Weidetieren. In der Schweiz hingegen fehlt es an Erfahrung», stellt Jan Boner vom Plantahof fest. «Herdenschutzhunde verteidigen ihre Herde, weil diese sozusagen zur Familie gehört – zu ihrem sozialen Umfeld», betont er. Daher seien sie bei verschiedensten Nutztieren einsetzbar. Hierzulande sind sie vor allem in Schaf- und Ziegenherden zu finden, zurzeit auf über 50 Betrieben im Kanton, Tendenz steigend. Laut Boner gibt es bisher erst zwei Betriebe, die seit mehreren Jahren erfolgreich Herdenschutzhunde unter Rindvieh halten. Da bei uns noch kaum Rindvieh gerissen wurde, ist die Nachfrage eher klein.