Stolz zeigt Renate* auf die grosse Metallbüchse in ihrer Hand. «Ich konnte heute schon zehn Eier einsammeln», sagt sie mit einem Lächeln. Renate ist 35, hat eine geistige Beeinträchtigung und lebt bei einer Bauernfamilie auf einem Hof im Emmental. Ich durfte den Landwirtschaftsbetrieb für eine Reportage besuchen.

Renate wird nie allein für sich leben können. Doch auf dem Hof hat sie eine abwechslungsreiche Aufgabe, einen strukturierten Tagesablauf, Kontakt mit Tieren und Familienanschluss.

Steigende Nachfrage

Rund 550 Bauernhöfe in der Schweiz bieten soziale Dienstleistungen an. Etwa für Betagte, für Menschen mit einer körperlichen und/oder psychischen Beeinträchtigung oder auch für Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen. Der Bedarf steigt, doch die Anbieter stehen noch etwas im Schatten.

Das will die neu gegründete Branchenorganisation «Green Care Schweiz» nun ändern. Im Dachverband sind sowohl Anbieter wie auch Nachfrager vertreten. Das Co-Präsidium des Vorstands übernahmen zwei Nationalräte, die den Kontakt zur nationalen Politik gewährleisten sollen: Raphaël Mahaim, Anwalt aus dem Kanton Waadt, und Alois Huber, Landwirt und Vize-Präsident des Schweizer Bauernverbandes (SBV).

Wo fehlt es?

Braucht es eine solche neue Branchenorganisation überhaupt? Tatsache ist, dass soziale Dienstleistungen gerade für kleinere Höfe oft einen wichtigen Betriebszweig darstellen. Aber:

  • Es fehlen einheitliche, gesamtschweizerische Ausbildungsstandards und Weiterbildungsmöglichkeiten.
  • Es fehlen in der Schweiz Forschungen über die Wirksamkeit, Aufwand und Nutzen von Betreuungsplätzen auf den Bauernhöfen.
  • Noch fehlt eine gemeinsame Plattform für Anbieter und Nachfrager, um Betreuungsangebote in der Landwirtschaft bekannt und sichtbar zu machen.
  • Dazu kommt das leidige Thema Finanzen, über das man aber auch sprechen muss. Viele Bauernfamilien schätzen es, mit einer auf Platzierungen spezialisierten Agentur zusammenzuarbeiten. Doch die Entschädigungen sind nicht in allen Fällen transparent. Generell brauche es eine faire Bezahlung, wenn von Bauernfamilien eine 24-Stunden-Präsenz erwartet wird. Mit einer professionellen, gesamtschweizerisch agierenden Organisation im Rücken haben die Anbieter eine bessere Ausgangssituation.

Vorteil für die ganze Region

Carefarming-Angebote können Landwirtschaftsbetriebe helfen und auch für die ganze Region von Vorteil sein, wie eine Studie aus Österreich zeigte: Es werden Arbeitsplätze geschaffen und die medizinische Versorgung ist besser.

Der Dachverband Green Care Schweiz ist gestartet, muss sich aber noch etablieren. Eine erste Hürde ist die Finanzierung der Startphase. Dafür wurde im Rahmen der Verordnung zur «Förderung von Qualität und Nachhaltigkeit in der Land- und Ernährungswirtschaft» (QuNaV) ein Gesuch beim Bundesamt für Landwirtschaft gestellt. Danach will der Verband selbsttragend arbeiten.

Willkommenes Engagement

Abo André Stalder im Stall bei seinen Jersey-Kühen. Neben Milchwirtschaft und Fleisch-Vermarktung bietet er auf seinem Hof Green Care an. Betreuung in der Landwirtschaft Bauern gründen neuen Dachverband: Der Betriebszweig Green Care blüht auf Monday, 22. August 2022 Der Schweizerische Bauernverband engagiert sich nicht bei Green Care Schweiz. Denn es sei es kein Kernthema des Verbandes, erklärt Medienverantwortliche Sandra Helfenstein. «Wir können aus Ressourcengründen nicht überall mitwirken. Aber wir begrüssen das Engagement in diesem Bereich durchaus.»

Und wie steht das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) dazu? «Das BLW begrüsst die Gründung dieses Dachverbandes sowie das Engagement der Landwirtinnen und Landwirte, die auf ihren Betrieben soziale und solidarische Strukturen beherbergen», antwortet Mediensprecherin Florie Marion auf Anfrage. «Abgesehen davon, dass diese Aktivitäten eine Möglichkeit sind, sich zu diversifizieren, ist die Einrichtung solcher Strukturen ein wertvoller Beitrag für die Gesellschaft.»

Mehr Selbstständigkeit

Für die betroffenen Menschen ist Carefarming auf jeden Fall wertvoll. «Auf dem Hof betreuen wir drei Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen und körperlichen Einschränkungen», sagte etwa Karin Wyss, Bäuerin und Präsidentin des Vereins Carefarming, bei der Kick-off-Veranstaltung von Green Care Schweiz.

«Diese Frauen erlebten auf dem Hof erstmals, sich in einem sozialen Umfeld zu bewegen. Sie werden in Entscheidungsprozesse einbezogen. Sie erhalten nicht nur ein Zuhause, sondern eine zweite Familie.»

Als zusätzliche Arbeitskraft dürfe man die Klienten nicht zählen, betont sie. «Schön, wenn jemand mithilft. Wenn nicht: auch gut.» Dennoch lernen die zu betreuenden Menschen auf den Höfen viel Lebenspraktisches, gewinnen an Selbstständigkeit. In manchen Fällen konnten Medikamente reduziert werden.

Für die Bauernfamilien geht es aber noch um etwas anderes: Um Wertschätzung, nicht nur im finanziellen Bereich. «Es geht auch um ein neues Selbstbewusstsein», sagt Landwirt André Stalder, der sich im Vorstand von Green Care Schweiz engagiert: «Wir haben etwas zu bieten, das gefragt ist.»