Abo Green Care Soziale Angebote in der Landwirtschaft: So sieht es in der Schweiz und im Ausland aus Monday, 22. August 2022 Ein stämmiger Mann lenkt konzentriert eine Schubkarre voller Mist aus dem Stall. Eine Gruppe Kühe weidet zufrieden unter Schatten spendenden Obstbäumen neben einem alten Emmentaler Bauernhaus. André Stalders Hof in Lützelflüh wirkt auf den ersten Blick fast nostalgisch.

Doch im Gespräch zeigt sich schnell, dass der Landwirt keineswegs aus der Zeit gefallen ist. Zum einen mit der bewussten Wahl der Kuhrasse, die zu seinem hanglagigen Betrieb passt. Zum anderen engagiert er sich für Green Care. Dieser Betriebszweig, mit dem bereits André Stalders Eltern vor 23 Jahren begonnen hatten, wird auch in der Schweiz vermehrt zu einem Thema.

Mit den Begriffen Green Care oder Care Farming werden unterschiedliche Betreuungsangebote auf Landwirtschaftsbetrieben bezeichnet. Sei es für Senioren, für Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung, für Kinder und Jugendliche oder für Personen mit psychischen Problemen.

Am besten ohne Erwartungen

Der Mann mit der Schubkarre ist A. L., wie er in diesem Artikel zum Schutz seiner Persönlichkeit genannt wird. A. L. hat eine autistische Beeinträchtigung und lebt seit 22 Jahren an Wochentagen auf dem Hof. «Er hilft mit, in seinem eigenen Tempo und am liebsten allein», erklärt André Stalder. A. L. könne etwa selbstständig den Melkstand und das Milchgeschirr waschen oder Heu rüsten. Er habe diese Arbeiten über lange Zeit gelernt. «Grundsätzlich wird individuell abgemacht, wobei jemand mithilft oder nicht. Man darf nichts erwarten, dann wird man positiv überrascht.»[IMG 2]

Wie viele Höfe heute Green Care anbieten, weiss man nicht. Im Jahr 2010 waren es laut einer Studie mindestens ein Prozent aller Betriebe. «Der Bereich ist allerdings seither um einiges gewachsen», weiss André Stalder. «Doch es fehlen gesamtschweizerische Strukturen.»

Der 52-Jährige amtet neben seiner Arbeit auf dem Hof als Vize-Präsident des Vereins Carefarming Schweiz, in dem sich vor acht Jahren «Anbieter von Betreuungsdienstleistung im ländlichen Raum» zusammengeschlossen haben. Nun will der Verein unter der Bezeichnung «Green Care» einen Dachverband gründen, in dem auch Nachfrager vertreten sind. Dazu gehören etwa Familienplatzierungs-Organisationen, die IV und die Kantone.

Im Sozialen und in der Landwirtschaft

Abo Interview Neuer Dachverband für Green Care: «Angebot und Nachfrage zusammenführen» Monday, 22. August 2022 Die besondere Herausforderung bei Green Care sei, dass die Anbieter sowohl im sozialen Bereich als auch in der Landwirtschaft tätig sind, sagt André Stalder. «Das macht es kompliziert. Es braucht Beratung, Hilfe, Dokumente und Qualitätsstandards.»

André Stalder hat nach der Landwirtschaftslehre verschiedene Weiterbildungen absolviert, arbeitete unter anderem dreizehn Jahre in Südafrika als Reiseleiter und später sieben Jahre beim Berner Bauernverband. Zu seinem Hof gehören derzeit 30 Jersey-Kühe und zehn Hektaren landwirtschaftliche Nutzfläche, die er «nun etwas extensiviert und ab 2022 auf Bio umstellt». Auf dem Betrieb werden zwei Lehrlinge ausgebildet, und im oberen Stockwerk des Stöcklis wohnen zwei Männer mit Beeinträchtigungen.

Leben und Arbeiten auf dem Hof

Neben A. L. lebt auch D. L. hier. Doch er hat eine Tagesbeschäftigung auswärts und ist nur beim gemeinsamen Abendessen und zum Übernachten auf dem Hof. Zusätzlich kommen jeweils für einige Wochen zwei Menschen mit Beeinträchtigungen für einen Ferien- oder Entlastungsaufenthalt auf den Betrieb.

Vermittelt wurden die Plätze von der Wobe, einer Agentur, die sich auf Wohn- und Betreuungsplätze in Familien spezialisiert hat. André Stalders Ehefrau Steffi arbeitet als Sozialpädagogin auswärts und hilft auf dem Hof und im Haushalt mit sowie bei Arbeitsspitzen. Auch die Eltern sind nach wie vor auf dem Betrieb aktiv.

«Es braucht Strukturen und Verlässlichkeit.»

André Stalder, Landwirt in Lützelflüh und Vize-Präsident des Verins Carefarming Schweiz

Betreuung braucht Zeit

Etwa 20 Prozent seiner Arbeitszeit beanspruche die Betreuung, schätzt André Stalder. Tauchen Probleme auf, versucht man, sie selber zu lösen. Falls das nicht geht, hilft die Familienplatzierungs-Organisation. Diese macht auch die Verträge mit den zu betreuenden Personen und allenfalls deren Familien und kümmert sich um die Abrechnung. «Das kann das Verhältnis entlasten.»

Nicht jeder Betrieb sei für Green Care geeignet. «Es braucht Strukturen und Verlässlichkeit. Und es muss jemand auf dem Hof ständig anwesend sein.»

Gesamtschweizerische Regeln gibt es für Green Care aber nicht, weder was die Struktur auf den Betrieben betrifft noch zur Ausbildung der Bauernfamilien oder bei der Vergütung des Aufwands. Noch ein Grund, warum für den Verein Carefarming ein Dachverband so wichtig ist. «Wir müssen irgendwo anfangen. Die Bedeutung so einer Organisation wird erst nach deren Start realisiert.»

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Der Dachverband startet

Am 22. September ist es nach längerer Vorbereitungsphase endlich so weit: Der Verein Carefarming Schweiz gründet den Dachverband Green Care. Unterstützt wird der Verein dabei von Agridea. Gemeinsam erarbeiteten die beiden Organisationen einen Businessplan, legten Statuten fest und suchten Vorstandsmitglieder. Sobald die Hauptfinanzierung gesichert ist, wird eine Geschäftsführung eingesetzt. Nach der Startphase soll der Dachverband selbsttragend arbeiten und sich durch Mitgliederbeiträge und Dienstleistungen finanzieren.

Das Ziel: eine schweizweite Plattform mit hohem Service-Charakter, auf der Anbieter, Suchende und Organisationen gefunden und zusammengebracht werden können. Wobei vorstellbar ist, dass das Betreuungsangebot breiter gefächert sein wird als bisher: zum Beispiel mit Garten-Therapien, Burn-out-vorbeugenden Auszeiten auf dem Hof, Vorlehren, etwa für Flüchtlinge, oder Tagesstrukturen, wie sie in den Niederlanden üblich sind.

«Wir sind in unserem System festgefahren, bei dem die zu betreuende Person auf dem Hof übernachtet. Doch die Landwirtschaft hat noch unglaublich viel Potenzial.»

Auf der Obstbaumweide neben dem Bauernhaus krault André Stalder Kuh Erika am Kopf und erklärt die Vorteile der Rasse Jersey für seinen Betrieb. Trotz seines Engagements für Green Care ist er durch und durch Landwirt. Doch nur mit Milch- und Fleischvermarktung allein kann der Hof nicht überleben.

«Die Landwirtschaft hat noch unglaublich viel Potenzial.»

André Stalder, Landwirt in Lützelflüh, über Green Care

Das Interesse ist da

Viele Bauernfamilien wären für Green Care bereit, wenn die Struktur und die Vergütung stimmen würden, meint André Stalder. «Dabei muss man es als Bonus anschauen, wenn der Gast bei einer Arbeit hilft. Denn für die Betreuung wird man bezahlt.»

Im Gegensatz zu einer geschützten Werkstatt haben beeinträchtigte Menschen auf einem Landwirtschaftsbetrieb nicht immer eine Aufgabe. «Man ist da und man darf sein», erklärt André Stalder. «Es ist ganz unterschiedlich, was tatsächlich möglich ist.» Oft helfen die Tiere auf dem Hof, dass sich jemand wohlfühlt.

Manchmal werden langfristige Ziele festgelegt, zum Beispiel in Sachen Hygiene oder dass die zu betreuende Person lernt, einfache Mahlzeiten selber zuzubereiten. «Es ist schön, solche Fortschritte mitzuerleben. Dann bekommt man etwas zurück.»

Weitere Informationen: www.carefarming.ch