Der Wolf ist ein ganz besonderes Tier: eines, über das man viel redet und über das jeder eine Meinung hat, das aber kaum jemand jemals mit eigenen Augen gesehen hat. Zumindest nicht in der freien Wildbahn. Auf den grossen und kleinen Bildschirmen, die unseren Alltag pausenlos begleiten, ist er deutlich öfter zu sehen als in Berg und Wald. In gewisser Weise ist der Wolf das erste virtuelle Wildtier der Schweiz. Anders als der Steinkauz, die Aspisviper oder die Langohrfledermaus – in der Schweiz unmittelbar vom Aussterben bedrohte Tierarten – hat der Wolf eine grosse Fangemeinde. Dies, obwohl Canis lupus weder weltweit noch auf dem europäischen Kontinent vom Aussterben bedroht ist.

Märchenfigur und Symbol

Seit Beginn der Debatte über die Rückkehr des Wolfes in die Schweiz verweisen seine Freunde Kritik gerne in das Reich der Mythen und Märchen. «Wer hat Angst vorm bösen Wolf», heisst es dann spöttisch, und im Parlament sprechen sie schon mal von «Rotkäppchen-Geschichten», wenn Vertreter des Berggebiets die Befürchtung äussern, dass das Raubtier gefährlich sein könnte.

Tatsächlich ist der Wolf in unserer Kultur seit Jahrhunderten ein Symbol. Er steht für das Wilde und Unberechenbare, das irgendwo da draussen ist. Alles ist ruhig, alles ist friedlich. Dann ist er unvermittelt da, der Wolf. Plötzlich ist alles anders als zuvor, und niemand hat es kommen sehen: Weil der Wolf Kreide gefressen hatte, weil er seine wahre Absicht verbarg.

Die Rotkäppchen-Geschichte wird wahr

Abo Alpsaison Pro Natura will Sömmerung von Schafen neu denken: «Die Aufgabe einzelner Alpbetriebe darf kein Tabu sein» Tuesday, 27. June 2023 Als in der Schweiz nach langen Jahren die ersten Wölfe auftauchten, hiess es, diese seien ungefährlich, hätten Angst vor dem Menschen, Angriffe auf Nutztiere seien Einzelfälle. Als die Einzelfälle normal wurden, hiess es, das sei kein Problem. Ein paar Hunde hier, ein Esel dort, hie und da eine Hirtin, und der Wolf werde die Schafe schon in Ruhe lassen. Nur wenige Jahre später greifen in der Schweiz Wolfsrudel Pferde und Rinder an, verfolgen Touristen, werden krank im Garten von Häusern gefunden.

Und jetzt die kommunikative Wende von Gruppe Wolf Schweiz und Pro Natura: Kann eine Alp nicht mit Herdenschutzmassnahmen gesichert werden, soll sie aufgegeben werden. Die Rotkäppchen-Geschichte, wonach der Wolf das Ende der Alpwirtschaft sei, wird also doch war. Zumindest für die betroffenen Alpen – und das sind nicht wenige.

Ein Argument, ins Gegenteil verkehrt

Die Argumentation von Pro Natura, die Beweidung sei der Biodiversität nicht dienlich, führt sogar noch weiter. Der Schutz der Biodiversität war bisher nämlich ein wichtiges Argument für den Erhalt der Alpwirtschaft. Wird dieses nun in sein Gegenteil verkehrt, wird es nicht einfacher sein, den Erhalt der Alpwirtschaft zu rechtfertigen.

Abo Ohne Beweidung: Erosion in Hängen des Schweizer Nationalparks. Naturgefahren Vertreibt der Wolf die Schafe, droht Erosion in den Alpen Monday, 17. July 2023 Im Naturschutz kennt man das Konzept der «Flagship Species». Das sind Tierarten, die als Sympathieträger ins Feld geführt werden, um Schutzmassnahmen politisch durchzusetzen. Beim Regenwald bringt man den Orang-Utan, bei der Arktis kommt man mit dem Eisbär.

Sparen im Berggebiet?

Wird der Wolf etwa zur «Flagship Species» für die Wildnis im Alpenraum? Seit zwei Jahrzehnten diskutieren Raum- und Städteplaner über den «Rückzug aus der Fläche»: Eine vernetzte Metropole im Mittelland, in den Alpen vereinzelte teure Resorts für den internationalen Tourismus, ausgedehnte Nationalparks mit etwas Kulturerbe und sonst: «alpine Brache». Die urbane Schweiz könnte Milliarden sparen, die heute in Entwicklung und Erhalt des Berggebiets und seiner Wirtschaft fliessen. Und sich voll und ganz auf die Positionierung auf den Weltmärkten konzentrieren.

Es geht um mehr

Noch hat der «Rückzug aus der Fläche» politisch keine Chance. Noch gilt das Credo: Die Berglandwirtschaft schützt die Biodiversität, erhält wertvolle Landschaftsbilder, ist ein Stück Heimat. Doch der Konsens erhält Risse. Sie werden sichtbar, wenn Bilder vom Alpaufzug Stürme der Entrüstung auf sich ziehen, weil die Kühe Treicheln tragen. Oder wenn die Aufgabe von Alpen wegen Wolfsrissen plötzlich nicht mehr als «Rotkäppchen-Geschichte» bezeichnet, sondern als nun notwendiger Strutkurwandel verkauft wird.

Alpine Landschaften sind hochkomplexe Systeme. Kleinste Veränderungen können grosse Folgen nach sich ziehen. Wenn die Schweiz über die Zukunft ihres Berggebietes entscheidet, sollte sie es informiert und nüchtern tun. Es geht um mehr als ein paar faszinierende wilde Tiere, die man aus dem Fernsehen kennt.