Vision Landwirtschaft prophezeit der Schweiz eine «Geisterfahrt mit Horrorpotenzial», sollte die Totalrevision der Pflanzenschutzmittelverordnung (PSMV) angenommen werden. Die vereinfachte Zulassung von Wirkstoffen, die in EU-Ländern mit ähnlichen agronomischen, klimatischen und umweltrelevanten Bedingungen erlaubt sind, würde unser Land zum «Königreich der Pestizide» machen, schreiben die Autoren. Was kommt da auf uns zu?

Vorschriften bleiben im Kraft

Abo Vernehmlassung startet Pflanzenschutz: Die Zulassung wird optimiert, der Stau angegangen Monday, 18. December 2023 Wie eine neue Verordnung in der Praxis wirken wird, ist naturgemäss nicht einfach abzuschätzen. Es gibt aber einige Punkte, die gegen eine «Geisterfahrt mit Horrorpotenzial» sprechen. Denn, obwohl Vision Landwirtschaft warnt, die Anliegen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes kämen in der neuen PSMV zu kurz, enthält sie doch folgende Regel: Während Massnahmen zum Anwenderschutz direkt von der EU übernommen werden sollen, müssten Schweizer Behörden die möglichen Rückstände im Gewässer beurteilen. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) geht gemäss erläuterndem Bericht davon aus, dass in puncto Umweltbestimmungen künftig so verfahren werden wird. Hinzukommen die – weiterhin gültigen – Vorschriften betreffend den Grundwasserschutzzonen und Zuströmbereichen sowie Pufferstreifen entlang von oberirdischen Gewässern, Hecken, Waldrändern und Ufergehölzen.

Für Vision Landwirtschaft ist es unrealistisch, dass Schweizer Behörden eine eigene, zusätzliche Prüfung für die Zulassung vornehmen werden. Denn sie müssten jeweils die Notwendigkeit dazu beweisen, so die Argumentation. Ausserdem würde die «Agrarlobby» Druck ausüben und die zu erwartende Flut an Gesuchen brächte Kapazitätsprobleme für die Zulassungsstellen mit sich.

Immer mehr Flächen fungizid-, insektizid- bzw. herbizidfrei

Damit wären wir beim Kern der Sache. Die Ausführungen von Vision Landwirtschaft enthalten zwei Denkfehler. Erstens stehen in der bisherigen Version der PSMV hohe Zulassungsgebühren einer neuen Flut von Gesuchen im Weg, worauf die Branche selbst aufmerksam gemacht hat. Je nach Vernehmlassung bzw. deren Berücksichtigung für die definitive Version der neuen PSMV wäre hier allerdings – theoretisch – noch eine Senkung möglich.

Der schwerwiegendere Denkfehler in der Argumentation der Denkwerkstatt betrifft aber die Rolle der Landwirtschaft: Was zugelassen ist, wird eingesetzt und schädigt damit Umwelt und Gesundheit. Auflagen zur Verwendung (z. B. Antidriftdüsen, passende Witterung) und das Prinzip von Schadschwellen bleiben ausser Acht. Wichtiger ist aber noch das Bild des Landwirts oder der Landwirtin, das von Vision Landwirtschaft transportiert wird. In der Vorstellung des Vereins setzen sie blindlings alles ein, was es auf dem Markt gibt. Der Jahresbericht zum Aktionsplan Pflanzenschutzmittel zeigt aber, dass die Flächen mit vollständigem oder teilweisem Verzicht auf Herbizide sowie der Anteil offener Ackerfläche ohne Fungizid- und Insektizidbehandlung seit Jahren stetig zunehmen. Letzterer Wert erreichte 2023 58 Prozent. 26 Prozent der Obst- und Rebflächen sowie 20 Prozent der offenen Ackerflächen waren ganz oder teilweise herbizidfrei. Wirkstoffe mit erhöhtem Risikopotenzial für Oberflächengewässer und Grundwasser sind im Übrigen für direktzahlungsberechtigte Betriebe verboten bzw. ihre Verwendung ist nur möglich, wenn es keinen Ersatz dafür gibt.

Niemand bringt gerne Gift aus

Abo Mangelnder Pflanzenschutz «Dafür wollen, können und dürfen wir keine Direktzahlungen verlangen» Friday, 13. October 2023 Der Aktionsplan Pflanzenschutzmittel umfasst insgesamt 49 Massnahmen, die seit 2015 eingeführt worden sind, und ist laut dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) auf Kurs. Die Politik fördert emissionsmindernde Technik, setzt via Direktzahlungen Anreize und zieht mit Verboten rote Linien. Ein massvoller und gezielter Einsatz von PSM ist aber nicht nur auf dem Papier und für die Umwelt sinnvoll. Kein Landwirt bringt gerne Gifte aus, das steht fest. Ihr Bewusstsein für natürliche Zusammenhänge und das Ökosystem samt Nützlingen, in und mit dem sie arbeiten, ist eine weitere Schutzmauer gegen das Horrorszenario, das Vision Landwirtschaft zeichnet. Ebenso wenig erstrebenswert wäre es aber, wenn die Kulturen und damit unsere Nahrungsgrundlage durch Krankheiten, Schädlinge, giftige oder dominante Pflanzen vernichtet oder unbrauchbar gemacht werden. Das sollten Gründe sein, Pflanzenschutzmittel einzusetzen. Dass es nicht immer Chemie sein muss, ist bekannt und bewiesen. Die neue PSMV hat somit das Potenzial, Landwirt(innen) für den Notfall neue Werkzeuge an die Hand zu geben. Über deren Verwendung muss nach bestem Wissen und Gewissen entschieden werden – und bitte nicht nur aufgrund überhöhter Ansprüche an das blosse Aussehen des Ernteguts.