An einem Feldweg im Solothurnischen steht ein altes Kreuz aus Stein. Wer näher tritt, kann die verwitterte Inschrift lesen: «Für 35 Jahre Ablass». Akribisch genau wurde hier ausgerechnet, wie viele Jahre Fegefeuer sich für den Preis eines Wegkreuzes einsparen liessen.

37 Mio. Tonnen Treibhausgas blies die Schweiz nach Schätzungen der Stiftung Myclimate im Jahr 2019 in die Atmosphäre. Das ist gerade mal ein Tausendstel des weltweiten Ausstosses. Nach Schätzungen des Bauernverbands trägt die Landwirtschaft knapp 14 Prozent dazu bei. Würde heute jeder einzelne Bauernhof von der Schweizer Karte getilgt – es gäbe die Alpengletscher keinen Tag länger.

Fokus auf der Ernährung

Doch typisch schweizerisch ist, es gut machen zu wollen. Vorne dabei zu sein. Auch beim Klimaschutz. Deshalb müssen alle mithelfen. In der Sprache des modernen Menschen sind mit «alle» natürlich zunächst «die anderen» gemeint.

Zwei Dinge scheinen die Menschen im Zeitalter der Sozialen Medien mehr zu beschäftigen als alles andere: Ihre Sexualität und ihre Ernährung. Ersteres betrifft die Landwirtschaftspolitik bisher nur am Rande. Bei Letzterem gibt es dagegen kein Entkommen: Nahrungsmittel müssen gesund, ökologisch und regional sein. Und nun sollen sie auch noch einen wegen der Klimaerwärmung drohenden Weltuntergang abwenden. Als sie das Kreuz am Wegrand aufstellten, half zur Busse noch das Fasten. Das hält heute keiner mehr aus, aber die thematische Nähe von Jüngstem Gericht und Speisekarte scheint ungebrochen.

Wie zu Gotthelfs Zeiten

Die Schweiz galt einmal als rückständiges Land und der damals gern beschworene Bauernstand als dessen konservatives Herz. Innovationen kamen oft von oben, die Bauern hatten sich anzupassen. Die Landwirtschaft zu Gotthelfs Zeiten war biologisch, ökologisch, nachhaltig und klimaneutral. Käme heute einer auf die Idee, so zu bauern wie der Urgrossvater, würden ihm die Ämter schnell das Handwerk legen: Raumplanung, Tier- und Gewässerschutz, Lebensmittelgesetz – all das generiert Kosten. Und hohe Kosten erfordern Effizienz.

Da kann man aus Naturschützersicht lange darüber lamentieren, dass die Landwirtschaft eine Industrie wie jede andere geworden sei. Sie wird sicher noch industrieller werden, je stärker sie industriellen Normen unterworfen wird. Wie eben der Regulierung des Treibhausgases, und sei es über – noch – freiwillige Massnahmen wie CO2-Zertifikate.

Modellrechnungen, Statistiken und Annahmen

Diese sind zunächst fiktive Gebilde, entstanden in den Computer-Labs der Universitäten und den Büros des Politikbetriebs. Wie man den Treibhausgasausstoss berechnet, wie man ihn misst, welchen Effekt man sich davon erhofft: alles beruht auf Modellrechnungen, Statistik, Annahmen über Annahmen, die auf Annahmen beruhen.

Abo Boden speichert Kohlenstoff – und könnte damit ein wichtiger Faktor beim Klimaschutz werden. Carbon Farming Böden sollen Treibhausgase speichern – aber bleiben sie auch dort? Monday, 6. March 2023 So wie beim Prinzip Humus-Zertifikat. Da wird auf Tonne und Franken genau errechnet, wie viele Tonnen CO2-Äquivalent der Atmosphäre durch Humusbildung entzogen werden. Ob der Kohlenstoff nach einigen Jahren wieder freigesetzt wird oder nicht, scheint diese Rechnung dabei nicht zu stören. 

Hauptsache, man hat eine Zahl. Politik und Wirtschaft nehmen diese für bare Münze – und als Währung der neuen Klimawirtschaft. Wie viele Tonnen CO2-Äquivalente braucht es, um Öffentlichkeit und Konsumenten mit ehrgeizigen Klimaschutzzielen zu beeindrucken? Wo kriegt man sie her und wie viel kosten sie? Damit können Konzerne arbeiten.

Ein Zeichen statt eine Zahl

Ganz am Ende dieser Kette stehen die Bauernfamilien. Die Nahrungsmittel, die sie liefern, sind der modernen Schweiz längst nicht mehr gut genug. Sie will Mehrwert: Labels, Zahlen, Zertifikate sind das Produkt, für das sie gerne zahlt. Doch das sind keine harten Werte, keine genauen Zahlen. Sie bilden eine modellierte Welt ab, nicht die erfahrbare Realität. Und doch werden sie zur harten Wirklichkeit: Dort, wo das Haushaltsbudget am Ende davon abhängt, ob eine – noch so fiktive – Zahl erreicht worden ist oder nicht.

Aber vielleicht geht es nicht um die Zahl, sondern vielmehr um ein Zeichen. Ein Zeichen, das eingefordert und belohnt wird, das vorweisen muss, wer Zugang zum Markt haben will. Ein Zeichen des guten Willens – oder einer neuen Frömmigkeit?