«Weisst Du, bei uns ist es wie im Wilden Westen. Niemand zahlt Steuern und auf dem Dorfplatz haben sie gerade einen neuen Pranger aufgestellt. Die meisten Autos sind im Nachbarland geklaut, alle fahren ohne Nummernschilder herum und die Polizei interessiert das Ganze überhaupt nicht.»

Das war die Antwort von Markus auf meine Frage, wie es sich denn so in Bolivien lebe. Markus ist Schweizer und Agronom, ursprünglich hat er gedacht, dass er bloss für ein Praktikum in das südamerikanische Land reisen würde. Doch es kam anders: Markus lernte seine Frau kennen, wurde Vater und erhielt eine Stelle bei einer bolivianischen Firma. Jetzt lebt er in Bolivien; ab und zu ist er in der Schweiz, um Freunde und Verwandte zu besuchen und etwas Geld dazuzuverdienen.

Mitten im Dschungel

Es ist immer interessant, sich mit Markus über «sein neues Land» zu unterhalten, vor allem über die Landwirtschaft. Zoomt man bei Google Maps auf Markus’ Wohnregion, landet man mitten im Dschungel. Die meisten Landwirte in dieser Gegend betreiben Subsistenzlandwirtschaft: Die Felder werden abwechselnd bewirtschaftet, auf eine Kultur folgt eine Brache. Angebaut werden neben tropischen Früchten hauptsächlich Reis und Mais. «Für die Bewirtschaftung hacken die Landwirte die Vegetation, die auf der Brache wächst, mit der Machete herunter. Anschliessend lassen sie sie ein paar Tage durch die Sonne trocknen und dann wird das Ganze angezündet», beschreibt Markus die gängige Anbaupraxis und zieht einen Vergleich zur Schweiz. «Etwas anzubauen, ohne vorher die Vegetation abzufackeln, das finden die Landwirte hier so bizarr, wie wenn ich vor 60 Jahren in der Schweiz behauptet hätte, dass ich Ackerbau ohne Pflug betreibe.»

Ungenutztes Land wird neu verteilt

Wenig zur Verbesserung trägt auch die aktuelle Gesetzeslage von Bolivien bei. Laut dieser ist Landbesitz an Landnutzung gekoppelt. Wenn jemand Land besitzt und es nicht nutzt, kann es der Staat folglich wieder zurückfordern und neu verteilen. Ebenfalls Usus ist, dass jemand anderes das Land beansprucht, indem er es rodet und anfängt, es zu bewirtschaften. Das Roden macht auch vor Schutzgebieten nicht halt; hier kommt es dann auf die Beziehungen zur Politik, zur Polizei und zu den Behörden an. Diese drücken bei Bedarf ein oder gleich mehrere Augen zu. Zu guter Letzt ist es in regelmässigen Zeitabständen üblich, dass die Regierung illegale Rodungen von Flächen nachträglich legalisiert. Davon profitieren besonders Grossgrundbesitzer, die den Urwald gleich hektarweise abholzen. Die hier beschriebenen Abläufe werden von Umweltschutzorganisationen kritisiert und sind unter anderem in einem Bericht der Organisationen CIFOR (Center for International Forestry Research) und ICRAF (World Agroforestry Centre) detailliert beschrieben.

Eine gerodete Fläche so gross wie die Schweiz

Abo Greenpeace «Kann Spuren von Abholzung enthalten»: Das sagen Coop und Migros zu Rindfleisch aus Brasilien Tuesday, 8. October 2024 Diese Praxis der Landgewinnung beschränkt sich natürlich nicht nur auf Bolivien. Alle Länder Südamerikas, die an den Amazonas grenzen, sind davon betroffen. Eine aktuelle Übersicht über das Ausmass bietet zum Beispiel die Website «globalforestwatch.org». Laut dieser Website hat Bolivien allein im Jahr 2023 eine Fläche von 6960 km2 an Regenwaldfläche verloren. Noch stärker betroffen ist das angrenzende Brasilien. Hier wurden 2023 nicht weniger als 27'300 km2 Fläche gerodet. Zählt man noch andere Länder wie Kolumbien oder Venezuela dazu, kommt man für das Jahr 2023 auf eine gerodete Fläche von rund 40'000 km2, also rund die Fläche der Schweiz.

Das Resultat dieser Pyromanie lässt sich auf der Website eines Schweizer Herstellers für Luftqualitätstechnologie (Luftfilter) nachverfolgen. Unter «iqair.com» kann man aktuelle Messwerte von Feinstaubmessstationen einsehen. Für viele Städte in Amazonasnähe heisst es häufig: «Aufenthalt oder Sport draussen vermeiden, Maske tragen und Fenster schliessen.»

In der Schweiz sind wir von den Resultaten oder den direkten Auswirkungen dieses Tuns glücklicherweise nicht in diesem Mass betroffen. Die Soja im Kraftfutter für die Tiere stammt zum allergrössten Teil aus Europa. Und der Handel bemüht sich mit der 2023 erlassenen «EU Regulation on Deforestation-Free Products», die auch die Schweiz betrifft, den Import von Produkten von gerodeten Flächen zu unterbinden. Dieser Erlass ist eine Absolution für Flächen, die vor dem 31. Dezember 2020 gerodet wurden. Sie gelten nämlich gemäss der Verordnung als «nicht entwaldungsrelevant» und darauf hergestellte Produkte dürfen bedenkenlos importiert werden. Pech also für Landbesitzer, die ihre Flächen erst 2021 gerodet haben. Sie müssen ihre Produkte vorläufig weiter nach Indien oder China verkaufen, die Nachfrage ist vorhanden. Das Rindfleisch-Schnäppchen aus Südamerika, das als Kundenfang in zahlreichen Schweizer Supermärkten aufliegt, stammt also, Zertifikat sei dank, nicht von gerodeten Flächen. Der Handel darf seine Hände in Unschuld waschen.

«Man kann es ihnen nicht übel nehmen»

Und die Landwirte in Bolivien? Man könne es ihnen nicht übel nehmen, meint Markus, sie möchten ja auch leben und wirtschaften. Einen Lichtblick gebe es schliesslich auch noch: Wegen der massiven Abholzung und der miserablen Luftqualität sei in Bolivien nun die Politik aktiv geworden. Laut Markus will man vermehrt die Agroforstwirtschaft fördern, wovon gerade die Kleinbauern am meisten profitieren sollen. Sie verzichten dann auf die Brandrodung und haben, tropischem Klima und Mischkultur sei dank, ganzjährig höhere Erträge. «Mal abwarten, was da noch passiert», meint Markus dazu.