Mitte Juli: Immer wieder freue ich mich, zu sehen, wie die Herde im Morgennebel einer Perlenschnur gleich von der Nachtweide in Richtung Weidegebiet läuft. Meine Mithirtin und zwei Herdenschutzhunde laufen voraus, ich, drei Herdenschutzhunde und meine Hütehunde hinterher. In der Mitte: die Herde.
Die Herde wie ein Wildbach
Jedes Mal, wenn ich der Herde so zuschaue, fällt mir auf, dass sie sich wie Wasser verhält. Macht man ihr zu viel Druck, wird sie zum reissenden, unkontrollierbaren Wildbach, schwappt über, rinnt gar in die falsche Richtung. Manchmal, insbesondere im Nebel, scheint sie zu versickern und plötzlich wie vom Erdboden verschluckt, um dann wie ein unterirdischer Bach irgendwo anders wieder aufzutauchen. Meistens aber dümpelt sie einfach nur zufrieden vor sich hin.
Heute, im lichten Morgennebel, ist sie wie ein mäandrierender Bergbach, der sich durch den Wald und die vielen kleinen Rinnen und Runsen schlängelt, im schönen gleichmässigen Rhythmus, um dabei friedlich auf dem ihr vertrauten Weg dahin zu fliessen. Es ist einfach nur schön, so mit den Tieren dahinzuziehen!
Es ist Ende Juli: Irgendwie macht mich das Geräusch des Helis immer noch nervös, auch nach zig Flügen, die wir hier auf der Alp schon hatten. Immer lauter wird es und plötzlich schwebt er über die Kuppe. In Windeseile hängen wir alles ab: die kleine, mobile Hütte und die Bigbags. Meine Mithirtin und ich verankern die Hütte, nivellieren sie aus. Wir leeren die Bigbags. Einer davon ist fast bis oben hin gefüllt mit Hundefutter für die Herdenschutzhunde. Hundefutter aus Holland mit Fleisch von irgendwoher wird heraufgeflogen, damit im Herbst so viel wie möglich nachhaltiges, einheimisches Lammfleisch wieder lebendig hinunter kann. «Absurd, das alles, und nicht sehr nachhaltig», denke ich wieder mal.
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Motivierte und andere Hunde
Bis zu vierzehn Hunde «sömmern» wir auf unserer Alp. Ich hatte alles an Herdenschutzhunden, könnte ein ganzes Buch füllen mit Geschichten. Geschichten von Hunden, die oft tagelang weg waren zum Wildern, um dann ungeniert zum Verdauen vor meiner Hütte zu sitzen und die ganze Nacht zu bellen. Oder solche, die lieber gleich die Schafe gejagt haben. Aber auch Geschichten von sehr tollen Hunden. Einer zum Beispiel hatte auch die Krähen von der Herde ferngehalten. Leider hatte er vor lauter Pflichtbewusstsein bald ein regelrechtes Burn-out. Er erkrankte an einer unheilba-ren Autoimmunkrankheit und musste eingeschläfert werden. Ein anderer, auch sehr guter Hund, stürzte in steilem Gelände ab. Beide Verluste waren nicht nur schlimm für unsere Schafe, sondern auch für uns, da wir die zwei wirklich sehr ins Herz geschlossen hatten.
Gedankenversunken laufe ich zur Haupthütte, denn heute zügeln wir nicht nur die mobile Hütte, sondern auch die Schafe. Wir ziehen in ein neues Weidegebiet und haben uns entschlossen, eine neue Route zu nehmen. Wir alle sind erstaunt, wie schön die Schafe diesen neuen Weg laufen, obwohl sie ihn nicht kennen. Schafe mögen keine ihnen unbekannten Wege, aber sie sind mit einem verlässlichen inneren Kompass ausgestattet. Sie haben eine bewundernswerte Orientierung und ein extrem gutes Erinnerungsvermögen.
Der Sommer neigt sich
Mir fällt wieder auf, wie schlau sie sind. Wie sicher sie in Richtung des neuen Weidegebiets ziehen. Im Vergleich zu manchem Touristen findet ein Schaf immer den richtigen Weg.
Ende August: Der Sommer neigt sich. Immer wieder lese ich von Rissen auf Nachbaralpen. Bis jetzt sind wir verschont geblieben. Warum, weiss ich nicht. Ich glaube, es ist einfach nur Glück. Ich wünsche mir, dass meine Herde noch den ganzen Sommer friedlich dahinfliessen kann und dass der Fluss der Herden in den Bergen nie abreisst.
