Aktuell beginnt für viele Kindergartenkinder der Endspurt. Noch ein Quartal – dann starten sie nach den Sommerferien in die erste Klasse. Ein grosser Schritt. Madeleine Humm, Erziehungsberaterin und Fachperson für vorschulische Förderung, weiss, was entscheidend dafür ist, ob ein Kind schulreif ist. Etwa die Wahrnehmungsreife. Ein Kind kommt nicht mit einem vollausgebildeten Gehirn auf die Welt. Es sind Erlebnisse über alle Sinnesorgane, die helfen, dass sich das Gehirn optimal entwickeln kann.

Spuren im Gehirn

Abo Analyse Warum der Bauernhof der ideale Ort ist, um Kinder auf die Schule vorzubereiten Monday, 1. May 2023 Wenn ein Kind ein Tier streichelt, knetet, Schubladen ein- oder ausräumt, mit Wasser spielt oder mit nackten Füssen über Gras und Sand geht, hinterlassen all diese Empfindungen Spuren im Gehirn. «Diese bilden einen Teil der Nervenverbindungen, die für das spätere schulische Lernen extrem wichtig sind.» Madeleine Humm vergleicht diese Nervenverbindungen auch mit dem Sockelgeschoss eines Hauses: «Je mehr man davon hat, desto besser funktioniert schulisches Lernen später.» Darum seien echte sinnliche Erfahrungen so wichtig. «Wenn ein Kind auf einem Tablet rumdrückt, wird es immer nur die Information ‹glatt› und ‹kalt› bekommen.»

«Eine feuchte Zündschnur»

Diesbezüglich hätten sich die Kinder im Laufe ihrer langen Berufstätigkeit enorm verändert, sagt Madeleine Humm, die auch als Fachlehrerin für Textilarbeit und Werken arbeitet. «Oft unterrichte ich Kinder, bei denen ich das Gefühl habe, sie hätten so ein bisschen ‹eine feuchte Zündschnur›.» Das bäuerliche Umfeld sei natürlich ideal dafür, Kinder die Welt mit allen Sinnen erfahren zu lassen, «statt wenn man hinaus aus der Stadtwohnung erst eine halbe Stunde gehen muss, bis man ein Plätzchen unverbauter Erde findet, wo sie buddeln können.» 

Weg vom reinen Ich

Es gibt noch einen weiteren Bereich, in dem Eltern ihre Kinder auf die Schule vorbereiten können: die Reife der psychischen Funktionen. «In den ersten zwei bis drei Lebensjahren ist das Kind ganz im ‹Ich› drin. Das ist von der Natur so eingerichtet, weil das Kind ja auf die Erwachsenen angewiesen ist, da es sonst gar nicht überleben würde», erklärt Madeleine Humm.

Aber so spätestens ab dem dritten Lebensjahr müssten die Kinder dann auch merken, dass es da noch andere Leute gibt, die auch Bedürfnisse haben. Die Kinder sollten Einfühlungsvermögen entwickeln und lernen, kleinere Frustrationen auszuhalten und Bedürfnisse auch mal zurückzustecken.

Kind ist kein Partner

Heute möchten viele Eltern bedürfnisorientiert erziehen, also auf die Bedürfnisse der Kinder möglichst eingehen, viel erklären und nach Möglichkeit auch Kompromisse aushandeln. Madeleine Humm findet aber, dass dieser Erziehungstrend Kinder eher überfordere und ihnen etwas sehr Wichtiges nehme: Sicherheit.

Sie nennt ein Beispiel: «Ich bin überhaupt kein Technikprofi und daher ein Internetbanause. Wenn mein Mann mit mir in einen Elektronikladen gehen würde und sagen würde, ‹such dir einfach etwas aus, es ist egal, wie teuer es ist›, würde ich überhaupt nicht klarkommen, sondern überall nur blinkende Kästchen sehen, ohne zu wissen, was ich nehmen soll oder worauf es ankommt.» So gehe es oft auch Kleinkindern, zum Beispiel, wenn sie im Tram bestimmen sollen, wo sie sitzen dürfen, oder sich im Laden einen Joghurt aussuchen sollen.

Auch mal traurig sein

«Viele Eltern wollen netter erziehen als früher, weil sie Angst haben, den Willen des Kindes zu brechen. Sie trauen sich nicht, nein zu sagen, halten es fast nicht aus, wenn das Kind einmal traurig ist. Aber ich muss in meiner Arbeit als Erziehungsberaterin immer wieder sagen, sie tun ihm keinen Gefallen, wenn das Kind nie traurig ist», schildert Madeleine Humm ihre Erfahrungen. Es gebe Kinder, die deswegen ihre ersten Schuljahre auf eine Art wie verpassen würden. «Sie sind vollkommen irritiert, dass da irgendjemand ist, der sagt, was sie machen müssen.»

Mit Reizen überflutet

Generell hat Madeleine Humm festgestellt, dass Kinder heute oft die Einstellung mit auf den Weg bekämen: «Es ist egal.» Als Lehrerin macht sie etwa oft die Erfahrung, dass es vier oder gar fünf Aufforderungen braucht, bis ein Kind zum Beispiel einen am Boden liegenden Bleistift aufhebt. Alles müsse ausdiskutiert werden oder wenn etwas kaputt gehe, kaufe man halt etwas Neues usw. «Das ist dieser Überfluss, in dem sie aufwachsen. Und viele Kinder leiden zudem an Reizüberflutung.»

Statt ständig ein Programm zu organisieren und die Kinder von Hobby zu Hobby zu schleifen, wären also unter Umständen genug Pausen für freies Spiel und Sinneserfahrungen umso wichtiger. «Wir leben einen hektischen Alltag und diese Hektik wird oft auf die Kinder übertragen.» Kinder haben einen anderen Zeitbegriff: «Wenn wir dann mit dem unsrigen kommen, überfahren wir die Kinder oft.» Neben Regeln und einem fixen Tagesablauf mit genug Ruhephasen sind laut Madeleine Humm auch Rituale etwas, das Kindern Sicherheit zu geben vermag.