Kaum spielen die Kinder friedlich zusammen, schon fliegen wieder die Fetzen. Doch müssen Eltern jedes Mal eingreifen? Jemand, der solche Fragen beantworten kann, ist Maya Risch. Die Zürcherin berät Familien, Eltern, Paare und pädagogische Fachpersonen. Eines ihrer Spezialgebiete: Umgang mit Wut und Aggression.

Warum ist häufiger Streit so typisch unter Geschwistern?

Maya Risch: Ich habe einen grossen Teil meiner Expertise nicht nur theoretisch und durch meine berufliche Tätigkeit gelernt, sondern ganz praktisch – durch meine beiden Jungs, die heute 17 und 20 sind (lacht). Geschwister leben sehr nah aufeinander und sind emotional enger verbunden als Freund(innen) oder Mitschüler(innen). Aber das heisst nicht automatisch, dass sie sich heiss lieben müssen – sie haben sich ja nicht ausgesucht. Nähe bedeutet immer auch Reibung. Deshalb «chlöpft» es unter Geschwistern einfach häufiger.

«Streit ist nicht nur nervig, er ist ein Entwicklungsfeld.»

Kinder erlernen beim Streiten soziale Fähigkeiten, erklärt Maya Risch.

Manche sagen, Geschwisterstreit sei sogar wichtig. Können Konflikte wirklich etwas Gutes haben?

Unbedingt. Kinder lernen im Streit soziale Fähigkeiten. Sie erfahren, wo die Grenzen des Gegenübers liegen, wie sie sich durchsetzen, aber auch, wie man mal nachgibt, Kompromisse findet oder etwas teilt. Wenn Erwachsene sie dabei begleiten, können sie sogar lernen, die Perspektive des anderen einzunehmen: Was steckt eigentlich hinter dem Verhalten meines Geschwisters? So üben sie, sich zu entschuldigen und Frieden zu schliessen. Geschwister leben diesen Kreislauf ständig: Sie streiten, spielen wieder, geraten in den nächsten Konflikt. So lernen sie verhandeln, Lösungen finden und für ihre Bedürfnisse einzustehen. Eltern hilft es, sich bewusst zu machen: Streit ist nicht nur nervig, er ist ein Entwicklungsfeld.

Gibt es bestimmte Altersphasen, in denen Geschwister besonders häufig aneinandergeraten?

Ja, aus meiner eigenen Erfahrung vor allem zwischen drei und zwölf Jahren. Da lernen Kinder am meisten über Sozialverhalten – und verbringen gleichzeitig die meiste Zeit mit der Familie. Später gehen sie immer mehr eigene Wege, dann flacht es bei vielen ab. In der Baby- und Kleinkindzeit spielt Eifersucht oft eine Rolle oder der Streit um Spielzeug, später geht es auch um Themen wie Raum, Besitz, elterliche Aufmerksamkeit und Liebe oder die Rangordnung in der Familie.

Soll man eingreifen oder die Kinder lieber selbst eine Lösung finden lassen?

Das ist eine der häufigsten Fragen in meinen Onlinekursen zum Thema Geschwisterstreit – und ich habe sie mir selbst als Mutter immer wieder gestellt. Lasse ich sie einfach streiten und riskiere eine Eskalation? Oder greife ich zu früh ein? Ganz wichtig ist: Sicherheit geht vor. Kinder können in ihrer Emotionalität Gefahren oft nicht einschätzen. Ich erinnere mich, wie mein jüngerer Sohn mit zwei, drei Jahren in einem Streit zum Schraubenzieher griff – da muss man sofort eingreifen. Auch wenn der Alters- oder Kräfteunterschied zu gross ist, brauchen die Kinder manchmal Schutz. Aber ansonsten darf es auch mal körperlich werden – das gehört zum gegenseitigen Messen dazu. Gleichzeitig: Nie einzugreifen, halte ich auch für falsch. Erwachsene, die mir heute erzählen, ihre Eltern hätten sie komplett allein gelassen, erinnern sich oft mit Bitterkeit daran. Manchmal reicht schon physische Präsenz, als Elternteil einfach da zu sein und zu signalisieren, «ich sehe, was passiert und bin bereit, falls nötig einzugreifen.»

Zur Person

Maya Risch ist Familienberaterin in Zürich, als Familylab-Seminarleiterin leitet sie Kurse für Eltern und pädagogische Fachpersonen. Sie ist zudem ausgebildete Kindergartenlehrperson und Waldkindergärtnerin sowie Ehefrau und Mutter von zwei fast erwachsenen Söhnen. 

Und was, wenn die Situation völlig eskaliert?

Dann ist entscheidend, wie man eingreift. Wir neigen dazu, nur dasjenige Kind zu sehen, das weint oder unterliegt. Doch auch das andere ist in Not – sonst würde es nicht so reagieren. Ich empfehle, beiden erst einmal eine Pause zu ermöglichen, abzukühlen, und dann in Ruhe zu schauen: Was war eigentlich los? Unbedingt eingreifen muss man auch, wenn ein Kind das andere ständig als Blitzableiter benutzt. Da muss man schauen, wo sich diese Energie sonst entladen könnte, sonst wird’s unfair. Zum Beispiel können Eltern das Kind, welches nicht weiss, wie es seine Anspannung sonst loswerden soll, einladen, sich an die Eltern zu wenden, wenn es das merkt. Das ist jedoch ein Prozess, bis Kinder das merken und benennen können. Selbst Erwachsenen passiert es ja manchmal, dass wir unsere Anspannung nicht adäquat loswerden.

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Viele Eltern haben Angst, unbewusst Partei zu ergreifen. Wie lässt sich das vermeiden?

Indem Eltern sich nach einem Konflikt der Geschwister reflektieren und sich bewusst werden, wie sie reagiert haben. Wenn ich als «Schiedsrichterin» auftrete, fühlt sich meist eine Seite unfair behandelt. Das kann die Situation sogar anheizen. Stattdessen versuche ich, Streit zu beobachten und zu begleiten, möglichst nicht werten und nicht zu entscheiden. Oft reicht schon die Frage: «Braucht ihr meine Hilfe?» oder «Hm, was könnt ihr denn jetzt machen?» Je nach Alter finden Kinder erstaunlich oft selbst eine Lösung. Und auch wichtig: als Eltern auf sich selbst achten. Häufig ist es der Lärmpegel, der uns stresst – nicht unbedingt der Streit an sich. Wir müssen nicht jeden Konflikt lösen, wir sind nicht dafür verantwortlich – vielleicht kann man sich auch mal Entlastung durch den Götti oder das Gotti oder gute Freunde holen. Als Eltern sollten wir Werte vorleben: Grenzen des Gegenübers respektieren, gewaltfrei handeln und kommunizieren.

«Elternsein ist kein Handwerk, das man automatisch beherrscht.»

Maya Risch empfiehlt, sich bei Unsicherheiten ruhig Hilfe zu holen oder einen Kurs zu besuchen.

Manchmal haben Eltern das Gefühl: «Das ist nicht mehr normal, die streiten ständig.» Was dann?

Ich kenne diesen Gedanken gut, denn ich hatte ihn damals auch. Dann habe ich von einer US-Studie gelesen: Dort wurde festgestellt, dass Geschwister durchschnittlich alle 20 bis 30 Minuten streiten. Das hat mich beruhigt. Oft hat der Stress mit dem Geschwisterstreit auch damit zu tun, dass wir uns das anders vorgestellt hatten, als wir uns für mehr als ein Kind entschieden haben. Wir wollten doch, dass die Geschwister einen Spielgefährten haben und friedlich zusammen spielen. Wissen hilft. Austausch mit anderen Eltern auch – man merkt, dass man nicht allein ist. Und: Entlastung suchen. Elternsein ist kein Handwerk, das man automatisch beherrscht. Wenn das Auto kaputt ist, gehen wir auch in die Garage, statt selbst herumzuschrauben. Warum also nicht auch mal einen Kurs besuchen? Das gibt Fachinput und den Austausch in einer geschützten Gruppe – und man merkt, dass man damit nicht allein ist. 

Wie hilfreich sind klare Regeln oder Rituale?

Sehr hilfreich. Jede Familie braucht ein paar Regeln. Rituale sind eine alternative Form – sie schaffen Orientierung und Sicherheit. Alles kann jedoch nicht geregelt oder ritualisiert werden. Deshalb ist es wichtig, dass alle Familienmitglieder lernen, ihre eigenen persönlichen Grenzen zu kommunizieren, denn diese sind nicht jeden Tag gleich. Nach heftigen Streits sollten wir bewusst auf Versöhnung achten. Kinder machen das oft automatisch, Erwachsene gerade in der Paarbeziehung hingegen nicht immer, das höre ich in letzter Zeit öfter. Da herrscht manchmal tagelanges Schweigen. Auch hier sind Eltern Vorbilder: Versöhnungsgesten, eine Entschuldigung, ein Gespräch oder ein einfaches High-Five zeigen, wie man wieder zueinander findet. Wenn Kinder erleben, dass die Eltern nach Konflikten Wege finden, wieder in Verbindung und Kontakt zu kommen, ist das ein starkes Vorbild. Kinder lernen enorm viel durch Erleben, Beobachten und Nachahmung. 

Zum Schluss: Wenn Eltern mitten in einer hitzigen Streitszene nur einen einzigen Tipp beherzigen könnten – welcher wäre das?

Einfach mal die eigene Reaktion verlangsamen. Beobachten, zuhören, durchatmen und noch nicht handeln. Sich selbst fragen: Braucht es mich hier wirklich? Schon dieser kleine Moment kann vieles verändern.
 

Website von Maya Risch