«Ein Trauma ist ein Ereignis, das die Bewältigungskapazität eines Menschen übersteigt und ihn überfordert. Es ist also nicht das Ereignis selbst, das traumatisch ist, sondern die Wirkung, die es auf den betroffenen Menschen hat», sagt Traumatherapeutin Susanne Lenz.

In ihrer Praxis in Winterthur ZH arbeitet sie mit traumatisierten Menschen. «Bei einem Trauma spielen viele Faktoren eine Rolle, wie z.B. die Resilienz, also die Widerstandsfähigkeit der Person, ihr allgemeiner Stresspegel oder ihre gesundheitliche Verfassung.» Auch sei es entscheidend, ob es sich um ein einmaliges oder wiederholtes Ereignis handelt. Besonders bei Kindern kann eine Traumatisierung schneller passieren, sie sind verletzlicher, weil sie sich in der Entwicklung befinden und noch nicht gefestigt sind. «Dinge, die für Erwachsene keine grosse Bedeutung haben, können bei ihnen starke Spuren hinterlassen», sagt die Fachfrau und erklärt im Interview mehr dazu. 

Können Sie uns ein Beispiel dafür geben?

Susanne Lenz: Ja: Zum Beispiel ist es für ein Baby höchst traumatisierend, wenn es alleine gelassen wird. Ein grösseres Kind oder ein Jugendlicher hingegen kann schon problemlos eine seiner Entwicklung angemessene Zeit alleine sein, ohne dass es eine traumatisierende Auswirkung hat.

Welche Arten von Traumata behandeln Sie am häufigsten?

Am häufigsten begleite ich Menschen mit traumatischen Kindheitserlebnissen. Das umfasst unter anderem lang andauernde und wiederholte physische und/oder emotionale Vernachlässigung, Missbrauch oder Gewalt. Ebenfalls gehört das Aufwachsen in desolaten oder toxischen Familiensystemen dazu. Ich empfange viele Menschen, die verbale und körperliche Übergriffe, Mobbing, den Verlust eines Elternteils, aber auch medizinische Traumata usw. erlebt haben. Wenn Eltern ihre Kinder nicht angemessen und liebevoll begleiten können, weil sie selber krank, traumatisiert oder vom Alltag absorbiert sind, dann hat das gravierende Auswirkungen. Sie leben im Dauerstress, mit vielschichtigen Auswirkungen auf die körperliche, emotionale und psychische Gesundheit sowie ihre Entwicklung.

 

«So kann es sein, dass traumatisierte Menschen gar nicht realisieren, was mit ihnen los ist.»

Traumatisierte Menschen würden Gefühle oft verdrängen oder gar abspalten, erklärt die Therapeutin. 

Wie merkt man eigentlich, dass man ein Trauma hat?

Es gibt eine Vielzahl von Symptomen, die auf ein Trauma hindeuten. Man fasst diese als Symptomkomplex unter den sogenannten Traumatrias zusammen, nämlich Wiedererleben (Intrusionen), Übererregung (Hyperarrousal) und posttraumatische Vermeidung. Auch entstehen und etablieren sich oft ausgeklügelte Bewältigungsmechanismen, die bei der Trauma- oder Traumafolgenbewältigung helfen. Diese sind jedoch später im Leben oft nicht mehr hilfreich oder sogar destruktiv.
Wichtig ist ein sorgfältiges Diagnostizieren durch Fachpersonen
alle Symptome, die auf ein Trauma hindeuten, können auch andere Ursachen haben, die ausgeschlossen werden müssen.
Die Bewältigungsmechanismen umfassen vielschichtige Vermeidungs-, Kompensations- oder Anpassungsstrategien. Es werden zum Beispiel oft Gefühle unterdrückt oder abgespalten, denn das Trauma war emotional massiv überfordernd und überflutend. Diese Gefühlsverdrängung geschieht unbewusst. Sie dient fortan dem Eigenschutz und wird mit der Zeit zur Normalität. So kann es sein, dass traumatisierte Menschen gar nicht realisieren, was mit ihnen los ist.

Kürzlich kam ein Mann in meine Praxis, weil seine Frau ihm zurückgemeldet hatte, dass er gefühlskalt und angepasst unterwegs sei und dass sie das nicht mehr lange aushalte. Er fragte mich: «Meine Frau meint, das könnte etwas mit meiner Kindheit zu tun haben, ich selber erinnere mich jedoch kaum daran. Kann es sein, dass ich ein Trauma habe?» In den darauf folgenden Auflöse-Prozessen erkannte und bearbeitete er seine belastete Kindheit und die daraus resultierenden Bewältigungsmechanismen der Gefühlsverdrängung. Er konnte zu sich selber finden, sein Verhalten ändern, vor allem aber konnte er wieder ins Fühlen kommen und Emotionen zulassen. Die Folge davon; seine Beziehung blühte auf und die Lebensqualität vervielfachte sich.

Was sind typische Auslöser (Trigger) für traumatisierte Menschen?

Trigger können unterschiedlich sein und hängen von der Art des Traumas ab. Bei Menschen, die emotionale Vernachlässigung durch ihre Eltern erfahren haben, sind es oft Situationen in Beziehungen, die triggern, also traumatischen Stress auslösen. Es kann zum Beispiel die Emotionalität eines Partners sein, die Stress verursacht, weil die Person überhaupt nicht gelernt hat, mit Emotionen umzugehen. Es kann aber auch ein Schweigen oder ein vorübergehendes Sich-Zurückziehen des Partners sein, das heftig auslöst, weil damals vielleicht die Mutter das kleine Kind durch Verachten, nicht Beachten oder Weggehen bestrafte.

Kann man jedes Trauma heilen?

In der Traumatherapie geht es nicht darum, ein Ereignis ungeschehen zu machen, sondern darum, es zu verarbeiten zu integrieren. Ein Trauma kennzeichnet sich immer dadurch, dass es triggerbar ist. Das bedeutet, dass schon minimale Übereinstimmungen mit dem damaligen Geschehen später den gesamten traumatischen Stress reaktivieren. Dies geschieht, weil die korrekte Verarbeitung während des traumatischen Ereignisses unterbrochen wurde. Vor allem die zeitliche und biografische Einordnung konnte nicht erfolgen. Aus diesem Grund bleibt es im Gehirn wie pendent. Es kann also im Erfahrungsgedächtnis nicht in die Vergangenheit einsortiert werden, es ist darum nicht «vorbei» und somit jederzeit triggerbar. Nach der erfolgreichen Traumatherapie drängt sich das traumatische Material nicht mehr immer wieder ungewollt auf, der Organismus beruhigt sich, der Mensch findet zurück in eine gute Lebensqualität.

Wie gestalten Sie eine erste Therapiesitzung?

Die erste Sitzung dient hauptsächlich der Einschätzung und dem Vertrauensaufbau. Ich versuche mir ein Bild zu machen von der Situation und davon, was die Person braucht. Wenn jemand in einer akuten Krise ist, braucht es zuerst viel Stabilisierung und Ressourcenaufbau. Ich erkläre die Zusammenhänge, damit die Person sich selber besser versteht und organisiere, wo nötig weitere Unterstützung, wie zum Beispiel Spitex. Ich lasse nicht direkt von traumatischen Inhalten erzählen, um eine weitere Stressaktivierung oder gar Retraumatisierung zu verhindern. Stattdessen arbeiten wir mit Stichworten, Körperarbeit und körperorientierter Traumatherapie, damit sich das vegetative Nervensystem möglichst schnell ausbalancieren kann.

«Kinder reagieren sehr direkt, was die Arbeit erleichtern kann.»

Susanne Lenz über die Unterschiede zwischen Kinder und Erwachsenen in der Traumatherapie. 

Wie arbeiten Sie in der Traumatherapie mit dem Körper?

Ein Trauma und seine Symptome manifestieren sich körperlich. Es entstehen zum Beispiel oft Muskel-Verspannungen und -Schmerzen durch die übermässige Stressaktivierung. Darum spielt die Arbeit über den Körper in der Traumatherapie eine zentrale Rolle. Ich arbeite mit sanften Berührungen oder ausgleichenden Atem- und Körper-Übungen. Es entstehen Prozesse, in denen sich im Körper gehaltene traumatische Emotionen und Körperempfindungen lösen und entladen. Ich begleite ermutigend, regulierend, erklärend, Sicherheit gebend und integriere gleichzeitig laufend ins explizite Gedächtnis. Es ist wichtig, dass der Klient sich dabei sicher und gut aufgehoben fühlt und dass er immer gut versteht, warum ich etwas tue. Bei traumatisierten Menschen ist Kontrollverlust eine der grössten Ängste.

Wie arbeiten Sie mit Kindern im Vergleich zu Erwachsenen?

Kinder reagieren sehr direkt, was die Arbeit erleichtern kann. Der grösste Unterschied ist, dass man bei Kindern immer die Eltern mit ins Boot holen muss. Das kann die Arbeit schwieriger machen, vor allem wenn das ursächliche Problem bei den Eltern liegt. Zum Beispiel melden sich Mütter bei mir, mit dem Wunsch, ich möge doch ihren Teenager «flicken». Ich stelle dann im Gespräch fest, dass eigentlich die Mutter selbst Hilfe bei ihren eigenen Themen oder Erziehungs-Fragen bedürfte. Hier spielt zuerst emphatische Aufklärung und Beratung oder eine Weiterleitung der Eltern an eine Fachstelle eine wichtige Rolle, damit dem Kind und den Eltern geholfen werden kann.

Wie wichtig ist es, dass es zwischen Ihnen und dem Klienten menschlich harmoniert?

Das ist essenziell. Vor allem bei Menschen mit Bindungstraumata muss die therapeutische Beziehung stabil und auf Augenhöhe sein. Ich bin mutmachende Begleiterin und unterstützende Vertrauensperson, auf die der Klient bauen kann. Er verarbeitet grad Schlimmes, erarbeitet sich wieder Lebensqualität und setzt seine Ziele um und ich bin beratend, reflektierend und zuverlässig an seiner Seite.

Wie lange dauert eine Therapie normalerweise?

Das ist sehr unterschiedlich. Bei einem Trauma Typ1, wie einem Autounfall, kann es in wenigen Sitzungen gelöst sein, wenn die Person sonst gut im Leben steht. Bei einem Trauma Typ 2, wie langfristiger körperlicher Missbrauch in der Kindheit, dauert es länger, weil sich vielschichtige körperliche und psychische Folgebeschwerden und Überlebensmuster bilden. 

Was motiviert Sie in Ihrer Arbeit als Traumatherapeutin?

Ich habe lange vorwiegend mit traumatisierten Hunden gearbeitet. Irgendwann realisierte ich, dass ich vorwiegend mit den Hundehaltern arbeiten muss, um nachhaltige Veränderungen zugunsten der Hunde zu erzielen. Mehr und mehr liess ich mich ausbilden und wechselte in die Therapie- und Begleitarbeit von Menschen. Seit 2018 widme ich mich voll und ganz in meiner Praxis in Winterthur der körperorientierten Begleitung und Unterstützung von traumatisierten Menschen.

Website von Susanne Lenz