Das Kind ist ein Jahr alt und kann noch nicht laufen? Es ist fünf und kann keine Schnürsenkel binden? Feststellungen wie diese – und vor allem Vergleiche mit anderen Kindern – verunsichern Eltern gerne.

Auf Facebook kursiert ein Text mit solchen Beispielen, der da weiter lautet: «Wenn ich jetzt zwei 30-Jährige vergleichen würde, könnten die genau das Gleiche? Ab einem gewissen Alter wird hingenommen, dass nicht alle Menschen in allen Bereichen gleich sind. Der Vierjährige aber, der noch keinen ‹richtigen› Menschen zeichnen kann, der muss gefördert werden. Wirklich?»

«Es ist normal, dass Entwicklungsunterschiede sehr gross sein können.»

Regula Neuenschwander, Dozentin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern

Grosse Unterschiede

Aber was ist überhaupt «normale» Entwicklung? «Viele Vorstellungen von Erwachsenen gegenüber Kindern sind genau von dieser Frage geprägt», sagt Regula Neuenschwander. Sie forscht und doziert zur Entwicklungspsychologie an der Universität Bern.

Abo Analyse Kinder vergleichen: In der Schublade ist wenig Platz für Entfaltung Thursday, 4. July 2024 «Es ist normal, dass Entwicklungsunterschiede sehr gross sein können, bis zu mehreren Jahren, also zum Beispiel, dass ein neun- und ein zwölfjähriges Kind auf der gleichen Stufe stehen und theoretisch die gleiche Klasse besuchen könnten», sagt Neuenschwander. 

Um die Entwicklung von Kindern zu verstehen, würden sich Fachpersonen die sogenannte Variabilität anschauen, also wie stark sich Kinder voneinander unterscheiden. Ein bekanntes Beispiel sei das Laufenlernen, bei dem ein Alter von 9 bis 18 Monate «normal» ist.

Früh laufen, spät reden?

«Innerhalb von einem Kind können ausserdem unterschiedliche Bereiche ganz unterschiedlich ausgeprägt sein, wie die motorische, die sprachliche und die kognitive Entwicklung», erklärt Regula Neuenschwander. Am im Volksmund bekannten Spruch «Ein Kind, das früh läuft, redet später» kann also durchaus etwas dran sein. Dazu kommen meist auch Aufholeffekte.

Dass Eltern sich schnell Sorgen machen, sei völlig normal: «Man will ja nichts verpassen.» Es helfe, sich dieser Ängste bewusst zu werden und sich zum Beispiel beim Kinderarzt oder bei der Kinderärztin, der Mütter- und Väterberatung oder der Erziehungsberatung zu melden. «Es gibt so viele Institutionen, die man angehen könnte, die viel über die bereits erwähnte Variabilität wissen.» Deren Expertise könne besorgte Eltern womöglich beruhigen.

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«Zu meiner Zeit gab es noch keinen schulpsychologischen Dienst.»

Regula Neuenschwander, Dozentin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern

Gene und Umwelt

Einig sind sich die Wissenschaftler(innen) heute laut Regula Neuenschwander darin, dass bei der Entwicklung Gene sowie Umwelt eine Rolle spielen – und vor allem, dass dabei «das Zusammenspiel sehr wichtig ist».

Was braucht ein Kind für eine möglichst gute Entwicklung? «Sensitive, feinfühlige Betreuungspersonen wie die Eltern, Grosseltern etc., die stabil für das Kind da sind, ihm Wärme und Zuneigung geben und es optimalerweise gleichzeitig fördern.» Beim Fördern sei durchaus auch etwas Fordern dabei: «Man kann versuchen, mit dem Kind immer einen Schritt weiterzugehen als das, was es schon kann, damit es sich entwickeln kann.»

Generell sei es sicher so, dass beim Thema Entwicklung heute genauer hingeschaut werde als früher, sagt Regula Neuenschwander: «Es ist eine solidere Wissensbasis da. Es gibt zum Beispiel den schulpsychologischen Dienst, den hat es zu meiner Zeit noch nicht gegeben.»

Fachkräfte fehlen

Tatsache ist aber auch, dass das System etwas am Anschlag ist. Eltern müssen unter Umständen lange auf eine Abklärung auf Autismus oder eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) warten, Fachkräfte wie Kinderpsychotherapeut(innen) sind gesucht. Das liege einerseits am Fachkräftemangel, andererseits aber auch daran, dass gerade im Jugendalter bei der mentalen Gesundheit «der Bedarf stark gestiegen ist».

So spreche man denn etwa bei ADHS gerne zu Unrecht von einer «Modediagnose». Die Lage sei komplexer und man wisse heute viel mehr darüber, zum Beispiel auch, dass sich ADHS bei Mädchen ganz anders äussern kann als bei Jungen – und deshalb steige die Diagnoserate bei den Mädchen.

Wertvolle Unterschiede

Bezüglich Entwicklungsunterschiede bei Kindern hat Regula Neuenschwander noch ein beruhigendes Schlusswort parat: «Die gesunde Entwicklung einer Population und deren bestmögliche Anpassung an eine bestimmte Umwelt funktioniert am besten, wenn sie möglichst divers ist. Unterschiede sind deshalb nicht nur normal, es braucht sie sogar und sie machen Sinn. Das ist klassische Evolutionstheorie», sagt sie mit einem Lachen.