Vor sieben Jahren wurde ich das erste Mal Mutter. Seither mache ich mir mehr Sorgen als früher. Ich glaube, die meisten Eltern kennen das. Plötzlich geht es nicht mehr nur um das eigene Leben, sondern man hat Verantwortung für ein zweites (und in meinem Fall mittlerweile drittes) Lebewesen.

Man macht sich viele Gedanken. Was, wenn meinem Kind etwas passiert? Was, wenn mir etwas passiert? Bin ich eine gute Mutter? Bin ich zu gestresst? Und: Man vergleicht nicht nur sich selbst mit anderen Müttern, sondern auch die eigenen Kinder mit anderen.

Kleine Eltern, kleine Kinder

Nicht immer helfen Einschätzungen von aussen dabei bei der Entspannung. Beim Kinderarzt hiess es oft, meine Töchter seien sehr klein und leicht. Damit konnte ich gut umgehen, weil ich das aus meiner eigenen Kindheit gut kannte. Ich war oft das «Finöggeli».

Abo Manche Kinder malen gerne und früh genau aus, anderen sagt diese Tätigkeit nicht zu oder sie brauchen länger.  Fachfrau äussert sich Kinder entwickeln sich unterschiedlich schnell: Was heisst schon normal? Thursday, 4. July 2024 Und ganz ehrlich, aus der Kombination einer 1,6 Meter «grossen» Mutter und eines 1,74 Meter grossen Vaters, der zwar sportlich ist, aber nicht viel auf die Waage bringt, kann man wohl kaum zwei Schwingerinnen erwarten, oder nicht? 

Wie unterscheiden sich Kinder voneinander?

Um die Entwicklung von Kindern zu verstehen, wenden Fachpersonen die sogenannte Variabilität an, also, wie stark sich Kinder voneinander unterscheiden. Ein bekanntes Beispiel ist das Laufenlernen, bei dem ein Alter von 9 bis 18 Monate «normal» ist.

Klar habe ich mich trotzdem gefragt, warum die eigenen Kinder ab neun Monaten monatelang über den Boden robbten wie Soldaten durch den Schlamm. Das Krabbeln und Laufen kam dann von ganz allein – vielleicht vergleichsweise eher spät. Dafür haben beide früh viel geredet. Eine Kombination, die gar nicht so selten zu sein scheint, sprachlich agil, körperlich erst mal etwas weniger. Es entwickeln sich eben nicht alle Bereiche gleich schnell.

Die eine schüchtern, die andere zappelig

Übrigens, da war es schon, das Wort, dass ich eigentlich vermeiden wollte: vergleichsweise. Damit geht es meist richtig los, wenn die Kinder eingeschult werden. Bei beiden Töchtern gab beim Kindergartenstart Diskussionen. Die Grössere sei schüchtern, verträumt und spiele fast nur allein. Die Kleine sei zappelig, habe Mühe mit Knöpfen, Reissverschlüssen und Scheren und spiele ebenso fast nur allein.

Ich habe versucht, einen Mittelweg zu finden, fahre die Kinder an meinen freien Tagen zur von der Schule angeregten Logopädie und Psychomotorik. Gleichzeitig habe ich gegenüber den Lehrpersonen meinen Standpunkt klargemacht, dass unsere Kinder absolut «normal» sind und in gewissen Dingen einfach etwas mehr Zeit brauchen. Das hat sich bestätigt. Viele der «Probleme» haben sich längst ausgewachsen. Das Wichtigste ist, dass beide gerne in den Kindergarten und die Schule gehen.

Unterschiede sind normal 

Sich als Eltern Sorgen zu machen und zu fragen, was «normal» ist, ist menschlich. Man will ja nichts verpassen. Bestärkt in meiner Gelassenheit hat mich das Gespräch mit Regula Neuenschwander für einen Artikel in der BauernZeitung. Die Dozentin für Entwicklungspsychologie an der Universität Bern sagt: «Es ist normal, dass Entwicklungsunterschiede sehr gross sein können, bis zu mehreren Jahren.» Ein neun- und zwölfjähriges Kind könnten also theoretisch die gleiche Klasse besuchen, sagt die Expertin.

Bewusstsein nimmt zu

Heute wird bei der Entwicklung genauer hingeschaut als früher, was ich grundsätzlich gut finde, und man hat viel mehr Wissen. Zum Beispiel, dass sich ADHS bei Mädchen anders äussert als bei Jungen, dass sie verträumt, ängstlich und vergesslich sein können statt hyperaktiv – dass mit zunehmendem Bewusstsein auch mehr Diagnosen gestellt werden, ist deshalb genauso naheliegend wie richtig.

Bedingungslos lieben

Wenn allerdings kein ernsthafter Anlass besteht, gibt es genug Gründe, Kinder nicht (zu sehr) zu vergleichen. Kinder sind individuell. Sie verdienen es, geliebt und akzeptiert zu werden, wie sie sind. Vergleiche können ihnen das Gefühl geben, fehlerhaft zu sein. Sie können das Kind unter Druck setzen und es kann sich gezwungen fühlen, sich anzupassen. Dabei möchten wir Eltern doch ein Kind mit einem gesunden Selbstbewusstsein, das sich ruhig mal wie eine Superheldin oder ein Superheld fühlen darf?

Man muss nicht immer gewinnen

Ein Kind, das mit anderen verglichen wird, lernt nie, dass es auch in Ordnung ist, wenn man mal den zweiten, dritten oder auch letzten Platz besetzt. Es soll aber lernen, dass man nicht immer perfekt sein muss. Wer sein Kind vergleicht, steckt es womöglich in eine Schublade. «Tim hat erst spät zu sprechen begonnen» oder «Ronja ist eine Wilde» – schon gehört es zu denjenigen, die «hinterherhinken» oder hat womöglich das Gefühl, zu laut und störend zu sein.

Zuneigung und Förderung

Was brauchen Kinder, um sich möglichst gut zu entwickeln? Aus Gesprächen mit Regula Neuenschwander und anderen Expertinnen für frühere Artikel habe ich mitgenommen, dass es ein stabiles Umfeld aus Eltern, Grosseltern und weiteren Betreuungspersonen ist, die dem Kind Sicherheit, Wärme und Zuneigung geben und es fördern. Fördern kann auch mal etwas fordern heissen, aber eben nicht überfordern.

Das Leben mit allen Sinnen erfahren 

Ein Kind kommt nicht mit einem voll ausgebildeten Gehirn auf die Welt. Es sind Erlebnisse über alle Sinnesorgane, die helfen, dass es sich optimal entwickeln kann. Wenn ein Kind ein Tier streichelt, knetet, Schubladen ein- oder ausräumt, mit Wasser spielt oder mit nackten Füssen über Gras und Sand geht, hinterlassen diese Empfindungen Spuren im Gehirn. Diese bilden einen Teil der Nervenverbindungen, die für das spätere schulische Lernen extrem wichtig sind.

«Ins kalte Wasser schmeissen»

Meine Kinder haben noch keine klassischen Hobbys. Sie sollen viel spielen und Kind sein dürfen. Sie helfen meinen Eltern auf dem Bauernhof, reiten Ponys, spielen mit der Katze und buddeln im Schlamm. Wir gehen viel raus, in den See und den Wald und auch mal in den Indoorspielplatz. Basteln ist nicht meine Stärke, aber ich helfe zeichnen und kneten. Der Papa geht mit ihnen bräteln und lehrt sie kochen. So findet sicher jede Familie ihren eigenen Mix.

Gleichzeitig darf man den Nachwuchs ruhig mal «ins kalte Wasser schmeissen». Ich habe meine scheue Grosse gefragt, ob sie in einem Theaterprojekt mitmachen möchte. Sie wollte. Sie wird vielleicht nie die Hauptrolle spielen, aber auf der Bühne zu stehen, hat ihr gutgetan und Spass gemacht.