Auch wenn ich bereits als Kind viel im Stall gestanden und beim Kalben zugeschaut habe, ist für mich die Geburt eines Kalbes auch heute noch etwas Emotionales. Es ist jedes Mal ein kleines Wunder für mich, wenn ein Kalb gesund und munter das Licht der Welt erblicken darf. Wenn ich dann zuschauen kann, wie es nach wenigen Minuten schon auf den Beinen steht, bei der Mutter trinkt und sie es trocken leckt, ist dies ein riesiges Geschenk.
Noch genau im Gedächtnis
An die Geburt unserer Kuh Bronco Delia kann ich mich noch genauestens erinnern. Ich wusste, dass ihre Mutter Desire an diesem Frühlingsabend im Jahr 2015 kalben würde. Ich hatte noch irgendeinen Termin und «pressierte», um beim Kalben dabei sein zu können. Doch ich kam offenbar ein kleines bisschen zu spät, denn die beiden Kälber lagen bereits im Stroh, als ich die hölzerne Stalltüre öffnete. Das eine Kalb – Delia – lebte, ihr Zwilling jedoch leider nicht. Ich weiss nicht, was passiert ist, und ob Delias Zwillingsschwester erst bei der Geburt oder bereits im Bauch gestorben ist, man konnte es ihr nicht ansehen.
Delia gefiel mir vom ersten Moment an besonders gut und ich hatte unheimlich Freude an ihr. Ich wusste da schon: Sie wird einmal eine Elitekuh – dies bestätigte sich in den kommenden Jahren.
Eine besondere Bindung zu Delia
Nicht nur ihr Aussehen war besonders, sondern auch ihr Charakter. Ich behandelte sie nicht anders als die anderen Tiere und bevorzugte sie nicht. Aber ich hatte einen wahnsinnig speziellen Draht zu ihr. Sie war eine sehr liebe und umgängliche Kuh. Ich mochte sie sehr – und sie mich offenbar auch, denn ich hatte noch nie eine Kuh, die so stark auf mich fokussiert war. Am extremsten zeigte sich dies, wenn ich mich in der Futtertenne mit jemandem zum Spass raufte, während die Kühe am Fressen waren. Dann hob Delia ihren Kopf und machte sich mit lautstarkem Brummen bemerkbar. Sie zeigte damit klar, dass ihr dies nicht passte und dass sie scheinbar wahnsinnig Angst um mich hatte, denn sie tat dies nur bei mir. Erst, wenn wir wieder aufhörten zu raufen, frass sie weiter.
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Auch an Viehschauen und Punktierungen machte sich bemerkbar, wie fixiert sie auf mich war. Wenn ich sie vorführte, präsentierte sie sich wahnsinnig gut und folgte meinen Anweisungen einwandfrei. Aber wenn jemand anderes sie vorführte, verhielt sie sich immer etwas eigenwillig und liess nicht alles mit sich machen. Wenn ich dann jeweils danebenstand und ihr gut zuredete, war ihre Welt wieder in Ordnung.
Ich war mit ihr an diversen Ausstellungen und sie gewann zwei Misstitel und zwei Schöneutertitel. Punktiert wurde sie mit 5555 98 und erreichte in der linearen Beschreibung in ihrer sechsten Laktation EX 92 4E; sie wurde also viermal mit Exzellent beschrieben.
Eine starke Titelverteidigerin
Delia war eine Kuh, die ihren Platz in der Herde sowie im Stall genaustens kannte, sie liess sich nicht beirren. Wenn die Kühe von der Weide geholt wurden – egal, ob im Tal oder am Berg – war sie nie die Erste, aber auch nie die Letzte. Sie kam stets im ersten Drittel; sie wusste, bei welcher Stalltüre sie hinein musste und ging auf direktem Weg an ihren Platz. Dieser Platz gehörte ihr und sie gab den anderen Kühen zu verstehen, dass keine andere Kuh hier etwas zu suchen hatte.
Ihren Rang in der Herde handhabte sie ähnlich. Ich denke nicht, dass sie die Leitkuh war. Sie hatte aber einen der vorderen Ränge, den sie dafür zu hundert Prozent vertrat und sich nicht mehr nehmen liess. Sie war charakterlich auf den ersten Blick keine besonders auffällige Kuh – weder im Positiven noch im Negativen. Delia war einfach dabei und nahm ihre Position ein, wenn sie an der Reihe war. Ihre Artgenossen hat sie nicht geplagt, sie hat sich dafür auch von keiner Kuh plagen lassen. Daher war sie eine sehr «gäbige», umgängliche Kuh, was unsere Beziehung sicher auch stärkte.
Solche Kühe wie Delia hat man liebend gern im Stall, da sie einen tollen Charakter hatte, wunderschön war und zu allem sehr leistungsbereit war. Sie produzierte für unsere Verhältnisse sehr viel Milch aus dem Grundfutter, war sehr persistenzstark und hatte gute Gehalte. Leider hatte Delia nur zwei Mal ein Kuhkalb, wobei ich ihre ältere Tochter letztes Jahr verkaufte. Die meisten ihrer Stierkälber konnte ich in die Zucht weitergeben.
Ein herzzerreissender Entscheid
An einem sonnigen Samstag vergangenen November liess ich die Kühe in den Laufhof. Kaum im Laufhof, rutschte Delia sehr blöd aus, ihr Hinterbein rutschte ihr weg und sie fiel um. Nach vergeblichen Aufstehversuchen und Herbeiziehen der Tierärztin, mussten wir sie, eingewickelt in Wolldecken und mit Helikopternetz und Frontlader, vorsichtig in den Stall ziehen. Wir betteten sie im Stall in genügend Stroh ein und pflegten sie.
Auch in dieser Situation zeigte sie, wie sehr sie mir vertraute. Sie liess die mühsame Prozedur über sich ergehen. Jedoch liess sie sich nur von mir streicheln und beruhigen, nicht aber von anderen Familienmitgliedern.
Wir hofften, die Verletzung würde sich in Grenzen halten und könnte sich zum Guten wenden. Aber Delias Anläufe am nächsten Tag, selbst aufzustehen, waren leider vergebens. Sie muss starke Schmerzen gehabt haben. Ich brachte es selber nicht übers Herz, über ihr Leben zu entscheiden. So sehr sie mir auch ans Herz gewachsen war und ich sie keinesfalls schon aufgeben wollte, konnte ich ihr auch nicht beim Leiden zusehen. Auf den Rat meiner Familie, der ihr leises Leiden nicht entgangen war und die der Meinung war, sie könne das Bein wahrscheinlich nie mehr belasten, entschieden wir uns, Delia zu erlösen.
Da sie bereits im achten Monat trächtig war, versuchten wir, ihr Kalb noch mit einem Kaiserschnitt zu retten. Das Stierkalb, das zu Ehren seiner Mutter Diamant hätte heissen sollen, wurde ziemlich unvorbereitet ins Leben geholt – immerhin entwickeln sich diverse Organe in den letzten Trächtigkeitswochen noch sehr stark. Der Lebenswille des Kalbes war stark, und es nahm anfänglich seine Milch, die wir ihm in kleinen Portionen mehrmals täglich gaben. Nach knapp zwei Tagen verweigerte es jedoch seinen Schoppen und wurde von Stunde zu Stunde schwächer.
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Was bleibt, ist Delias Ausstrahlung
Auch wenn Delia viel zu früh von uns gehen musste, und mir nur noch ein Aufzuchtrind von ihr bleibt, hat sie in ihrem Leben einiges bewirkt und Spuren auf unserem Betrieb sowie in unseren Herzen hinterlassen.
Delia war eine sehr robuste und jungscheinige Kuh – auch in ihrer letzten Laktation hätte man meinen können, sie wäre erst viertlaktierend. Sie war eine Kuh, die einem auf der Weide durch ihr Aussehen und ihre unglaubliche Ausstrahlung auffiel und im Gedächtnis blieb. An diese Eleganz, diesen «Sonntagsausdruck» und diesen Blick werde ich mich ein Leben lang erinnern.
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