Äusserst zügig und mit Musik im Ohr läuft Ursi Reichlin mit dem Schlepprechen den Heuschwaden entlang. Kaum jemand, der die sportliche Bäuerin bei ihrer Arbeit auf den Heuwiesen mitten in Schwyz beobachtet, kommt wohl auf den Gedanken, dass Ursi Reichlin nur noch über ein geringes Sehvermögen verfügt. Während sie auf dem rechten Auge fast blind ist, sieht sie mit dem Linken dank Spezial-Augenlinse noch reduziert.

Geniesst das Heurechen

«Das Heurechen ist für mich nicht Arbeit, sondern eher eine sportliche Betätigung. Ich geniesse diese Tätigkeit sehr und hoffe, dass ich dies noch lange machen kann», erklärt die 43-Jährige.

Sie leidet an einer Hornhauterkrankung, welche bei ihr im Alter von sechs Jahren diagnostiziert wurde. Die Schulzeit sei für sie schwierig gewesen. Trotz sehr starker Brille und einem Platz in der vordersten Reihe des Schulzimmers habe sie das Notierte auf der Wandtafel vielfach nicht lesen können. Neben der Sehschwäche belasteten sie auch die Sprüche über ihre dicken Brillengläser. Diese Erfahrung habe sie gelernt, wie wichtig es für das eigene Wohlbefinden ist, sich in der Umgebung von lieben und herzlichen Menschen aufzuhalten.

Noch viele Bilder verinnerlichen

Ursi Reichlin hat von Ärzten die Diagnose erhalten, dass sie ihre Sehfähigkeit über kurz oder lang vollständig verlieren werde. Entsprechend versucht sie, noch möglichst viele Bilder zu verinnerlichen. In ihrem gewohnten Umfeld kann sie sich immer noch gut orientieren. «Auf mir bekannten Wegen kann ich immer noch selbständig spazieren gehen, dies geniesse ich auch entsprechend», so die Schwyzer Bäuerin. 

Schwierig sei das Überqueren von stark frequentierten Strassen. Sie wurde dabei auch schon fast angefahren. «Meine Unsicherheit an Fussgängerstreifen sorgt bei Autofahrern teils für Unverständnis, da man mir meine Sehschwäche nicht ansieht.» Es belaste sie auch, dass sie ihr bekannte Gesichter aus der Distanz teils nicht mehr erkenne.

Ursi Reichlin ist zusammen mit zwei Schwestern auf dem Heimet Oberes Feldli, welches mitten im Kantonshauptort Schwyz steht, aufgewachsen. Zu dem Hof gehört auch ein stattliches Schwyzer Patrizierhaus mit einem grosszügigen Innenhof. «Ich arbeitete schon als Kind gerne zusammen mit meinem Vater auf dem Betrieb und wollte eigentlich ursprünglich die Ausbildung zur Landwirtin machen», erinnert sie sich. Ihr Umfeld riet ihr aber davon ab, da Frauen, die Landwirtin lernten, zu dieser Zeit noch selten waren.

Mit 19 Jahren selbständig

Sie entschied sich darum für ein bäuerliches Haushaltslehrjahr und arbeitete darauf auf ihrem elterlichen Betrieb. Gleichzeitig machte sie aber die Ausbildung zur diplomierten Masseurin und startete bereits mit 19 Jahren als selbständige Masseurin.

«Teils ist Zuhören für die Genesung wichtiger als Massieren.»

Für ihre Kundinnen und Kunden ist Ursi Reichlin zum Teil eine Vertrauensperson.

Ausgeprägter Tastsinn

24 Jahre später verfügt sie über einen grossen Kundenstamm und kann keine neuen Patientinnen und Patienten mehr annehmen. Rund sechs bis acht Personen massiert sie täglich in ihrer hauseigenen Praxis, meist kommen diese während der Morgen- und Abendstunden. «Das Massieren ist meine Leidenschaft. Es macht mit glücklich, wenn ich die Beschwerden und Schmerzen von Menschen lindern kann», so Ursi Reichlin. Ihre stärker werdende Sehschwäche wirke sich positiv auf ihre Fähigkeiten beim Massieren aus, da ihr Gespür in den Händen dadurch ausgeprägter wurde. «Beschwerden wie Zerrungen, Muskelverhärtungen oder Wirbelverschiebungen kann ich dadurch besser spüren und diagnostizieren.»

[IMG 2]

Ihre Patienten seien vielfältig, sie behandle sowohl gebrechliche ältere Menschen als auch kräftige Schwinger. Neben körperlichen Beschwerden kämen während der Behandlung aber auch immer häufiger seelische Probleme zum Vorschein. «Teilweise ist ein verständnisvolles Zuhören für die Genesung fast wichtiger als das Massieren selber», erklärt Ursi Reichlin. Durch ihr eingeschränktes Sehen könne sie gut zuhören und sich in die Probleme der Menschen reinfühlen. Nicht immer sei es einfach, nach den tragischen Erzählungen ihrer Kunden selber wieder abschalten zu können.

Stallarbeit erfüllt sie

Entsprechend wichtig ist ihr die nachmittägliche Zeit auf dem Feld und im Kuhstall. Trotz ihrer Sehschwäche geniesst sie die Zeit mit den Tieren und ist stolz, viele Arbeiten noch selbständig machen zu können. Die 18 Milchkühe stallt sie alleine ein und aus, sie mistet auch den Stall und füttert die Tiere. «Ich muss mittlerweile schon etwas näher an eine Kuh rangehen, um sie zu erkennen und so an den richtigen Platz führen zu können. Viele unserer Tiere erkenne ich aber auch einfach an ihrem Glockengeläut

«Ich mag das Spüren der warmen und sich entleerenden Euter.»

Aufgrund ihrer Sehschwäche ist Ursi Reichlins Tastsinn umso sensitiver.

Gemeinsames Melken

Wichtig sei für sie, dass Gerätschaften wie Gabel oder Karrette möglichst immer am gleichen Ort platziert seien. Zudem hätten sie wegen der Sehschwäche im Stall auch schon bauliche Massnahmen gemacht. So wurde die alte Kettenanbindung ersetzt, wodurch Ursi Reichlin die Kühe heute vom Futtertenn aus losbinden kann. Am Wochenende melken sie und ihr Mann Lieni Reichlin gerne gemeinsam die Kühe. «Ich mag diese Arbeit, insbesondere das Spüren der warmen und sich langsam entleerenden Euter.» Lieni Reichlin, der neben dem Landwirtschaftsbetrieb noch Bagger- und Forstarbeiten ausführt, sei eine grosse Unterstützung: «Seine ausgeprägte Ruhe und Gelassenheit geben mir viel Hoffnung und Selbstvertrauen.»

[IMG 3]

Das Matterhorn sehen

Ursi Reichlin blickt positiv in die Zukunft und hofft, dass ihre Sehkraft möglichst stabil bleibt. «Mein abwechslungsreicher Alltag mit Massieren, Haus- und Hofarbeitet ist für mich wertvoll. Die positiven Rückmeldungen von meinen Kunden tun mir gut und es erfüllt mich, Menschen helfen zu können.» Auch ihre Freizeit geniesst sie in vollen Zügen: Das Arbeiten mit den Händen im eigenen Garten, das Pflegen ihrer beiden Ponys und das Musikhören sind für sie wichtig. Auch ein feines Essen und einfachere Bergwanderungen gemeinsam mit ihrem Mann schätzt sie. Ursi Reichlin wünscht sich, in naher Zukunft nach Zermatt zu reisen. «Ich würde gerne einmal das Matterhorn aus der Nähe sehen.»

Fünf Fragen

Was können Sie besonders gut?
Menschen zuhören.

Welcher Aufsteller freut Sie?
Wenn Menschen nach meiner Behandlung keine Schmerzen haben.

Was macht Sie schlaflos?
Sorgen von Familienmitgliedern oder von Kunden.

Worüber können Sie lachen?
Über Witze, vor allem die meines Mannes.

Ihr Rezept für Entspannung?
Auf dem Sofa Musik von Helene Fischer oder Andrea Berg hören.