Die landwirtschaftlichen Einkommen sind tief, das haben die neusten Zahlen von Agroscope erneut bestätigt. Das wird bemängelt, aber am Ende lebt man in der Landwirtschaft damit. «Bauernfamilien sind mit wenig zufrieden», beobachtet Sandra Contzen, Dozentin für Agrarsoziologie an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL). Sie spricht von adaptiven Präferenzen: «Die eigenen Bedürfnisse werden zurückgestellt – bis unter das Minimum einer würdigen Existenz.» Da höre die gut schweizerische Bescheidenheit auf und es komme zu Selbstausbeutung.

Eine besondere Logik

Abo Passion für die Tierhaltung spielt auf Schweizer Familienbetrieben eine grosse Rolle – auch, was die Kosten angeht. Wirtschaftlichkeit Leidenschaft statt Lohn prägt vielerorts die Schweizer Milchproduktion Monday, 28. October 2024 Die Landwirtschaft sei geradezu geprägt vom Phänomen der Selbstausbeutung, fährt Sandra Contzen fort. Sie zitiert den russischen Agrarwissenschaftler Alexander Tschajanow. Bereits vor 100 Jahren hat er festgestellt, dass diese besondere Logik es den bäuerlichen Familienbetrieben ermögliche, schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen zu trotzen:

Steigerung: Bei einem Preiszerfall intensiviert die Familie ihre Arbeit, um die Produktion zu steigern und das Einkommensniveau zu halten.

Akzeptanz: Sie akzeptiert ein unterdurchschnittliches Lohnniveau, um Kosten zu senken und gegenüber kapitalistischen Betrieben wettbewerbsfähig zu sein.

Die Arbeit von Bauernfamilien hat nach Tschajanow keine Fixkosten. Dies im Gegensatz zu einem klassischen KMU, in dem Lohnkosten für alle Mitarbeitenden – inklusive Inhaber – in der Regel selbstverständlich zur Buchhaltung gehören. «Der Lohn ist für viele Landwirte, Landwirtinnen und Bäuerinnen das, was am Ende übrig bleibt, wenn alle Rechnungen bezahlt sind», verdeutlicht Sandra Contzen. Damit wird der Lohn – der betriebsleitenden Person und/oder mitarbeitender Familienmitglieder – zur Manövriermasse, zu einem finanziellen Puffer. Und es besteht die Gefahr, dass man von der Substanz eines Betriebs lebt. Auf dem Betrieb zu wohnen, ist schliesslich günstig und es gibt keine Wohnkosten, die plötzlich nicht mehr tragbar sind.

«Viel Kapital vernichtet»

[IMG 2]Dass Selbstausbeutung in der Landwirtschaft häufig ist, führt Sandra Contzen auf mehrere Faktoren zurück. «Zum einen dominiert das Ideal einer innerfamiliären Hofübergabe und dass der Betrieb um jeden Preis erhalten werden muss», erklärt sie. Dieses Credo halte sich hartnäckig und werde durch politische Rahmenbedingungen gestützt. Denn das bäuerliche Bodenrecht (BGBB) begünstigt Hofübernahmen innerhalb der Familie, da für diesen Fall der Hof zum Ertrags- statt Verkehrswert weitergegeben werden kann.

«Das vernichtet unheimlich viel Kapital, weil alle Investitionen beim Verkauf zum Ertragswert an Wert verlieren», gibt die HAFL-Dozentin zu bedenken. Da müsse man schon fast froh sein, wenn die Kinder nicht übernehmen wollen, zitiert sie einen Betriebsleiter, mit dem sie im Rahmen ihrer Studien gesprochen hat. Was nach einer selbstsüchtigen Bemerkung klingt, hat seine Berechtigung. Schliesslich hat die ältere Generation häufig keine andere Altersvorsorge als den Betrieb und wenn dieser zu einem tiefen Preis verkauft wird, sind die Senioren nicht selten auf Ergänzungsleistungen (EL) vom Staat angewiesen.

EL zu beantragen, ist oft schambehaftet. Ebenso verhält es sich mit finanziellen Schwierigkeiten. «Man spricht nicht darüber, um nicht Gerede im Dorf zu riskieren», weiss Sandra Contzen. Entsprechend wird keine Hilfe geholt, wenn es eng wird, sondern die eigenen Bedürfnisse werden zurückgestellt. Contzen gibt dazu einen Einblick in Gespräche aus ihrer wissenschaftlichen Arbeit.

Sandra Contzen: Haben Sie sich irgendeinmal als arm gefühlt in dieser Zeit? Mit den ganzen finanziellen Einschränkungen?

Bäuerin: Nein, arm nicht. Wir hatten … Wir hatten ja immer etwas zum Essen. Nein, arm nicht. Nicht verwöhnt. (lacht) Wir sind realistisch.

Bauer: Ich sagte schon immer: Wir haben Arbeit, wir haben Essen, ein gutes Dach über dem Kopf. So können wir leben.

Bäuerin: Ja, wir sind … Also ich kenne nichts anderes. Deshalb sage ich, dass es jetzt so ist und es so stimmt.

Neid behindert Austausch

Weil man sich – vielleicht auch aus Selbstschutz – an einen tiefen Wohlstandslevel gewöhnt, sieht die Agrarsoziologin in der Armut nicht den Hauptgrund für die erhöhte Suizidrate in der Landwirtschaft. «Dieser dürfte eher eine Überschuldung zugrunde liegen», vermutet sie. Wenn der Schuldenberg immer längere Schatten wirft und einen zu erdrücken droht, sehen manche keinen Ausweg mehr. Zudem können Neid oder die Angst davor verhindern, dass man sich über Erfolge austauscht und so voneinander lernt. Über die Finanzierung des modernen Stallneubaus wird geschwiegen, auch wenn die Frage manchem neugierigen Besucher aus der Nachbarschaft durch den Kopf gehen dürfte.

Da Bauernbetriebe selten sehr liquid sind, sind sie für Investitionen häufig auf Drittgelder angewiesen. Die Art und Weise, wie Investitionskredite und Darlehen vergeben werden, fördere die Praxis des Gratisarbeitens und der Selbstausbeutung in der Landwirtschaft, wie Sandra Contzen erklärt: «Wenn das Eigenkapital nicht reicht, geht eben die Ehepartnerin noch auswärts arbeiten und man plant Eigenleistungen beim Bauen, um die Kosten tief zu halten.» Letzteres funktioniert nur deshalb, weil die eigene Arbeit nicht oder zumindest deutlich weniger gut entlöhnt wird als die anderer. «Beratungspersonen akzeptieren dieses Vorgehen in der Regel. Und wenn nicht, findet sich eine andere Beratungsperson, die es tut», fährt die HAFL-Dozentin fort.

Neben der finanziellen Belastung mündet das aber schnell in einer Arbeitsüberlastung. «Eigentlich wäre es besser, etwa die Kühe während der Bauzeit abzugeben oder ein Pensum auswärts zu reduzieren, um sich dem Projekt widmen zu können.» Stattdessen sei es Usus, dass ein Neu- oder Umbau im laufenden Betrieb «obendrauf kommt» und so zu einer massiven Belastung für die ganze Familie wird.

Als Branche überlegen

Nicht nur in der Landwirtschaft gibt es viele, die ihre Unternehmen um jeden Preis am Laufen halten wollen. Dieses Denken sei im Agrarsektor aber tiefer verwurzelt, sagt Sandra Contzen. Weiter sind es nicht nur Bauernfamilien, die im Hamsterrad strampeln. «Dass man zu wenig auf sich und seine Bedürfnisse schaut, ist ein gesellschaftliches Problem.» In der Landwirtschaft kommt aber die oft finanziell schwierige Lage dazu.

Auch Künstler(innen) hätten tiefe Löhne und ihre Passion zum Beruf gemacht, bemerkt Contzen. «Ohne Kunst und Kultur ihre Bedeutung absprechen zu wollen: Die Versorgung mit Lebensmitteln ist vor Kulturellem ein Grundbedürfnis und die Landwirtschaft daher besonders essenziell.» Damit kann man sagen, dass die Situation im Agrarsektor trotz aller Ähnlichkeiten einigermassen einzigartig ist.

Um das Problem anzugehen, sieht die Agrarsoziologin verschiedene Ansatzpunkte. «Man müsste sich als Branche überlegen, was ein würdiger und branchenüblicher Lohn für Betriebsleitende wäre.» In anderen Branchen gebe es auch für die Leitung Referenzlöhne: Kann ein Unternehmen diese nicht einhalten, wird eine Aufgabe in Betracht gezogen.

Bedeutet das, ein allenfalls beschleunigter Strukturwandel wäre zu begrüssen? «Man muss den Strukturwandel nicht zwingend als ein Wachsen grosser Betriebe auf Kosten kleinerer verstehen», wirft Contzen ein. Auch Kleinbetriebe könnten wirtschaftlich erfolgreich sein, wenn sie eine passende Strategie und Nische für sich finden. Dazu braucht es aber einerseits die Offenheit, etwas Neues zu machen und Veränderungen anzustossen, um z. B. einen unrentablen Betriebszweig aufzugeben. Andererseits besteht der erste Schritt darin, sich einer finanziellen Schieflage bewusst zu werden. «Unproduktive Betriebe, die am Minimum laufen und nur dank Querfinanzierung aus einem Nebenerwerb funktionieren, sind weder gut für die Versorgungssicherheit noch für die Menschen, die dort arbeiten», stellt Sandra Contzen fest.

Mit wem verhandeln?

In diesem Jahr, könnte man sagen, war die wirtschaftliche Situation der Schweizer Landwirtschaft mit Bauernprotesten im Frühling und kürzlich vor dem Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) öffentlich präsenter denn je. «Die Bauernproteste sind ein guter Anfang, um Druck aufzusetzen», findet die Agrarsoziologin. «Ich sehe in tiefen Löhnen aber ein Branchenproblem, das die Branchenorganisationen angehen sollten.»

Es gebe viel Doppelspurigkeit und zahlreiche Abgaben der Produzierenden an Branchenorganisationen, weshalb Sandra Contzen deren Effizienz infrage stellt – ebenso wie jene der zahlreichen bäuerlichen Vertreter(innen) und Lobbyisten im Parlament. «Es ist wichtig, dass es diese Bauernproteste gibt», fasst sie zusammen, «aber man muss sich fragen, mit wem zu verhandeln ist.» Das BLW sei kaum die richtige Adresse, da dort die Grundlagenarbeit im Auftrag der Politik geleistet werde. «Das sind nicht jene, die Macht haben.» Und neben Produzentenpreisen spiele für die Wirtschaftlichkeit der Betriebe auch das Unternehmerische eine Rolle.

Landwirtschaftliche Selbstausbeutung ist demnach das Resultat eines Zusammenspiels von Traditionen im Denken und Handeln sowie in rechtlichen Strukturen. «Es muss sich auch jede Person selbst fragen, was die eigene Arbeit oder die des Ehepartners oder der Ehepartnerin wert ist», sagt Sandra Contzen. «Die Landwirtschaft sollte in Zukunft nicht länger eine Branche sein, in der Gratisarbeit normal ist.»

Ein Blick auf die Zahlen

Zum Jahresende gehört der Buchhaltungsabschluss. Dessen Interpretation werde oft vernachlässigt, schreibt das Inforama in einem Merkblatt. Angesichts des erforderlichen Aufwands für den Buchhaltungsabschluss sei es aber sinnvoll, diese Daten breiter als nur für steuerliche Zwecke zu nutzen. Beispielsweise könne damit die finanzielle Fitness des Betriebs beurteilt oder gesetzte Ziele überprüft werden (z. B. die Wirkung von Optimierungen oder Investitionen).

Agridea stellt einen Online-Leitfaden zur landwirtschaftlichen Buchhaltungsanalyse zur Verfügung (siehe Link unten). Er umfasst auch Tipps und Handlungsansätze in den Bereichen Zahlungsfähigkeit, Widerstandsfähigkeit und Rentabilität. Es gibt jeweils die Wahl zwischen einer einfachen und einer vertieften Analyse. Damit sollen sich laut Agridea betriebliche Stärken, Schwächen und Optimierungsmöglichkeiten erkennen lassen. Die Analyse dient aber auch als Planungs- und Entscheidungsinstrument oder um eigene Werte mit Referenzbetrieben zu vergleichen. Positive und negative Entwicklungstendenzen werden so sichtbar.
Landwirtschaftliche Beratungsstellen und Schulen bieten Unterstützung für Veränderungen auf dem Betrieb. Dabei kann es etwa um eine Neuausrichtung gehen, das Entwickeln einer Idee oder um Überlegungen zur Tragbarkeit. 

Zum Online-Leitfaden für die Buchhaltungsanalyse