«Sexualisierte Grenzüberschreitungen treten nicht auf, weil eine romantische Anziehung nicht erwidert wird», stellt Sylvana Hanisch klar. Die Deutsche ist Bildungsreferentin zum Thema Landwirtschaft und Geschlechtergerechtigkeit. «Es geht um Machtdemonstration, darum, zu erniedrigen, oder um Platzverweise. In der Regel entlang des Machtgefälles von oben nach unten», erklärt sie weiter.
Was verstehen Sie unter sexualisierter Gewalt?
Sylvana Hanisch: Sexualisierte Gewalt ist ein Überbegriff für sämtliche Formen sexualisierter Grenzüberschreitungen. Das Wort «sexualisiert» bezieht sich auf die Intention der Tat. Was vielen nicht bewusst ist: Nicht nur verbale und körperliche, sondern auch nonverbale Formen wie Blicke, Gesten oder das Zeigen pornografischer Bilder gehören dazu. Der entscheidende Punkt dabei ist nicht die Absicht der Tat, sondern die objektive Wahrnehmung und Unerwünschtheit aufseiten der betroffenen Person. Es ist wichtig, auch nonverbale Formen ernst zu nehmen, denn sexualisierte Gewalt findet im Arbeitskontext so gut wie nie als losgelöste Einzeltat statt. Einem körperlichen Übergriff gehen meist verbale und davor nonverbale Grenzüberschreitungen voraus. Es ist ein Ausloten – wie weit kann ich gehen? Auf gesetzlicher Ebene findet sich diese Definition fast genau so im Gleichstellungsgesetz (GIG).
In Gesetzestexten und im allgemeinen Sprachgebrauch wird häufig der Begriff «sexuelle Belästigung» verwendet, Sie verzichten bewusst darauf. Warum ist das wichtig?
«Sexuell» beschreibt eben nicht die Intention der Tat. Und «Belästigung» drückt nicht aus, was sich dahinter verbirgt. Es geht ja nicht um etwas, das einfach nur lästig ist. Es geht oft um weitreichende Folgen für die betroffene Person. Und diese Dimension fasst der Begriff «sexualisierte Gewalt» viel präziser.
Wären es Einzelfälle, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Ich möchte das Thema aus der Tabuzone holen.
Laut Sylvana Hanisch machen fast alle Frauen im Laufe ihres Lebens mal Erfahrung mit einer sexualisierten Grenzüberschreitung bei der Arbeit.
In der Schweiz heisst es im Obligationsrecht (OR) in Art. 328: «Der Arbeitgeber hat im Arbeitsverhältnis die Persönlichkeit des Arbeitnehmers zu achten und zu schützen […]. Er muss insbesondere dafür sorgen, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht sexuell belästigt werden […].» Damit wäre, theoretisch, der/die Arbeitgeber(in) erste Ansprechperson.
Er oder sie kann natürlich auch die grenzüberschreitende Person sein. In der Praxis ist diese Anlaufstelle deswegen nicht automatisch sinnvoll. Es ist aber immer gut, seine Rechte zu kennen!
Sie haben vorhin von Machtdemonstration gesprochen. Wenn jetzt an meinem Hüttenzaun ein Mann stehen bleibt, mich fragt, was ich «als Frau so ganz allein hier mache», und mir eine Geschichte von alten Stieren erzählt, die «auf jungen Rindern reiten» – was passiert da genau?
Das ist ein Beispiel für einen Platzverweis. In den meisten Fällen passiert das nicht mal bewusst. Es gibt eine Vorstellung davon, wer in welchen Positionen auf der Alp vorzufinden ist. Weicht das Bild davon ab, kann das Irritation hervorrufen oder auch konkrete Abwehr und das Bedürfnis, das in irgendeiner Form zu artikulieren. Das kann z. B. ein geschmackloser Witz sein oder der Verweis auf alte Zeiten oder Kommentare, die offene Ablehnung ausdrücken usw.
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Aber so insgesamt – sind das nicht Einzelfälle?
Wären es Einzelfälle, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Ich möchte das Thema aus der Tabuzone holen. Ich kenne das aus der Bildungsarbeit. Die Herren rutschen unangenehm berührt auf den Stühlen herum. Ein Teil der Frauen reagiert mit Abwehr und Argumenten, die untermauern sollen, dass es letztlich doch um Kompetenz geht und nicht um das Geschlecht. Irgendwann stellt sich aber immer heraus, dass fast alle Frauen im Laufe ihres Lebens in irgendeiner Form Berührung mit sexualisierten Grenzüberschreitungen im Arbeitskontext hatten.
Warum ist es so schwierig, darüber zu sprechen?
Landwirt(innen) empfinden oft viel Passion in ihrer Tätigkeit und identifizieren sich stark damit. Das Thema sexualisierte Grenzüberschreitung ist ein so persönliches, bei dem kaum jemand eine neutrale Position einnimmt. In meiner Arbeit muss ich daher genau abwägen, wie ich das Thema platziere. Es ist niemandem damit geholfen, wenn Leute verschreckt werden und Abwehr und Blockaden dazu führen, dass nicht mehr genau hingeschaut wird. Darum versuche ich, von der allgemeinen zur individuellen Ebene zu schauen.
Gibt es Strukturen, die sexualisierte Gewalt im Arbeitskontext Landwirtschaft/Alp besonders begünstigen?
Hier spielen sogenannte organisationelle Faktoren eine wichtige Rolle. Erstens Arbeitsstrukturen, die hierarchisch aufgebaut sind. Trifft eine hierarchische Arbeitsstruktur auf Machtgefälle, sind unterschiedlich ausgeprägte Abhängigkeiten der dort arbeitenden Personen nicht unwahrscheinlich. Aber auch flache bzw. fehlende Hierarchien können, wenn sie ein entgrenztes und undistanziertes Arbeiten miteinander begünstigen, ein Risikofaktor sein. Ein weiterer Faktor ist das Arbeitsklima. Neben der Arbeitszufriedenheit spielt auch das allgemeine Verhältnis zu Kolleg(innen) und Vorgesetzten eine Rolle oder als wie stressig ein Arbeitsumfeld wahrgenommen wird. Drittens können entgrenzte Arbeitsverhältnisse wie Lebens- und Arbeitsmittelpunkt an einem Ort, Arbeitsspitzen mit langen Arbeitstagen oder emotional aufwühlende Erlebnisse dazu führen, dass keine für alle Beteiligten angemessene Distanz im Arbeitsalltag gewahrt wird. Wichtige Risikofaktoren sind geschlechterspezifische Rollenzuordnungen und Ungleichheit im Berufsfeld.
Zur Person
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Sylvana Hanisch arbeitet im gewerkschaftsnahen Bildungsinstitut PECO e. V. als Bildungsreferentin zum Thema Landwirtschaft und Geschlechtergerechtigkeit und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel-Witzenhausen (D).
Was lässt sich hier verbessern?
Zur Verbesserung des Arbeitsklimas können u. a. Betriebsvereinbarungen, Regeln für ein respektvolles Miteinander, aber auch Schulungen hilfreich sein. Ein offener Blick auf eine Arbeitsverteilung unabhängig von Geschlecht sorgt für den Abbau von starren Rollen.
Und auf persönlicher Ebene, wie schaffe ich da Veränderung?
Auf der individuellen Ebene gilt es sich auszutauschen, zu vernetzen, sich ernst zu nehmen und Sichtbarkeit herzustellen. Und dass wir positive Beispiele genauer anschauen und als Vorbild nutzen.
Lassen Sie uns ein Beispiel durchspielen! Zurück zum Mann am Hüttenzaun. Wenn der mir zum Abschied die Hand reicht, ich mit einem Handschlag rechne, herangezogen werde und einen Kuss auf die Wange gepresst bekomme, was mache ich dann? Im ersten Moment fühle ich mich sprachlos, vielleicht auch wütend. Und ohnmächtig. Welche Möglichkeiten gibt es, aktiv zu werden?
Zunächst einmal ist es für Sie als Betroffene(r) unheimlich wichtig zu verstehen, dass es, egal für welche Situation, keine richtige oder falsche Reaktion gibt! Dennoch kommt die Frage nach Reaktionsmöglichkeiten sehr häufig und entspricht dem Bedürfnis, die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. Ich möchte keine «Tipps» oder «Handlungsempfehlungen» aussprechen, sondern Erfahrungen und Gedanken teilen, die ich von verschiedensten Seminarteilnehmenden gesammelt habe (siehe Kasten).
Das Interview erschien zuerst in «z’Alp», der Zeitschrift der Älpler(innen)
Wie kann man reagieren?
Sich vertrauen: Trauen Sie Ihrer Wahrnehmung. Lassen Sie sich nicht erzählen, Sie würden überreagieren. Sie tragen keine Schuld. Wenn Sie sprachlos bleiben, ist das auch ok. Notieren Sie Zeitpunkt, Person, Ort, Spruch/Handlung. Gibt es Zeug(innen)? Fällt Ihnen vielleicht ein, wie Sie gerne reagiert hätten? Schreiben Sie es auf!
Spiegeln: Sie können die Situation gegenüber der übergriffigen Person spiegeln, zum Beispiel sagen, «Würdest du dich auch so wie gerade verhalten oder eine solche Bemerkung machen, wenn deine Kinder jetzt hier wären?» «Wäre es okay für dich, wenn dein Verhalten und deine Aussagen morgen so in der Zeitung stehen würden?»
Wer fragt, hat die Macht: Sie können bei übergriffigen Fragen zurückfragen. Wiederholen Sie die Fragen und setzen Sie hinten an, «Wie hast du das genau gemeint?» Und dann immer weiter fragen. Fragen stellen ist eine Möglichkeit, sich zu ermächtigen und dem Gegenüber zu zeigen, wie unangemessen seine/ihre Fragen sind!
Sich Verstärkung holen: Holen Sie sich, wenn möglich, Zeug(innen) dazu. Sie können auch einen Anruf vortäuschen oder tatsächlich jemanden anrufen.
Sich vernetzen/Vertrauenspersonen suchen: Tauschen Sie sich mit anderen Hirt(innen)/Angestellten aus, fragen Sie, wie sie in solchen Situationen reagieren. Das gibt Rückhalt. Teilen Sie die Situation mit einer vertrauten Person, um sie nicht allein verarbeiten zu müssen.
«Stopp» sagen: Eine Situation, in der Sie körperlich angegangen werden, ist wahnsinnig schwierig. Sie haben immer das Recht zu artikulieren, wie es Ihnen geht. Vielleicht ist Ihr Weg, sachlich zu reagieren und darauf hinzuweisen, dass ein solches Verhalten nicht erwünscht ist. Oder Sie fragen: «Würdest du wollen, dass das ein Mann in deinem Alter mit deiner Tochter macht?» Vielleicht fehlen Ihnen die Worte, aber Sie schaffen es, «Stopp!» zu sagen! Vielleicht reagieren Sie auch wütend und pöbeln die Person an. Jede Reaktion ist angemessen!
Anlaufstellen
Man kann auch externe Hilfsangebote spezialisierter Stellen nutzen. Man kann sich zum Beispiel an www.belaestigt.ch wenden oder man googelt nach «Gleichstellungsbüro» oder «sexuelle Belästigung» und dem eigenen Kanton. Wenn man Unterstützung beim Erhalt des Arbeitsplatzes brauchst, kann man sich rechtliche Unterstützung bei einer Gewerkschaft holen (z.B. bei der Unia).