Dem Kleinkind das Handy mit lustigen Videos vor die Nase zu halten, damit es im Bus stillsitzt oder man im Restaurant in Ruhe essen kann, kann durchaus verlockend sein – ebenso wie die Kinder vor den Fernseher zu setzen, weil man als Eltern mal durchschnaufen oder ungestört etwas erledigen möchte. «Bildschirme sind sehr faszinierend für Kinder und üben eine grosse Anziehungskraft auf sie aus», sagt Anja Meier, Verantwortliche für Politik und Medien bei Pro Juventute. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie man den richtigen Umgang mit digitalen Medien im Erziehungsalltag finden könnte.
Wie viel Bildschirmzeit ist für Kinder und Jugendliche in welchem Alter noch gesund?
Anja Meier: Bildschirmzeit ist ein wichtiges Thema in vielen Familien und wird oft heiss diskutiert. Eine pauschale Regel für die richtige Dauer existiert nicht, da die Wirkung digitaler Medien stark von den konsumierten Inhalten und der Entwicklung des Kindes abhängt. Grundsätzlich brauchen Kinder klare Regeln, da sie ihren Medienkonsum noch nicht selbstständig regulieren können. Entscheidend sind ein ausgewogener Alltag mit ausreichend Bewegung, gesunder Ernährung, genügend Schlaf sowie eine bewusste und altersgerechte Nutzung digitaler Medien. In den letzten 20 Jahren gab es viele konkrete Empfehlungen zur Bildschirmzeit. Allerdings stammen diese Untersuchungen noch aus einer Zeit, in der der einzige Bildschirm in der Familie der gemeinsame Fernseher in der guten Stube war. Heute sind die Grenzen viel fliessender. Deshalb ist man in den letzten Jahren von festen Zeitvorgaben abgekommen.
Besonders wichtig ist es, den Kindern den bewussten Umgang mit Medien beizubringen, statt nur starre Zeitlimits zu setzen.
Anja Meier sagt, was eigentlich wichtiger ist als eine genaue Minuten-Regel.
Gibt es eine Altersgrenze für Bildschirmzeit?
Ja, im Baby- und Kleinkindalter sollte Bildschirmzeit möglichst vermieden werden, da sich das Gehirn in dieser Phase besonders rasant entwickelt und vielfältige Sinneserfahrungen benötigt. Experten empfehlen für Kinder im Vorschulalter maximal 30 bis 60 Minuten pro Tag, idealerweise in Begleitung der Eltern. Dadurch können sie helfen, das Gesehene zu verarbeiten, Fragen zu beantworten und Inhalte richtig einzuordnen. Für Primarschulkinder kann ein wöchentliches Bildschirmzeit-Kontingent sinnvoll sein, das sie selbstständig einteilen dürfen. Ab dem Teenageralter sollten medienfreie Zeiten, beispielsweise während der Mahlzeiten, in den Alltag integriert werden. Besonders wichtig ist es, den Kindern den bewussten Umgang mit Medien beizubringen, statt nur starre Zeitlimits zu setzen. [IMG 2]
Welche Auswirkungen hat zu viel Bildschirmzeit auf das kindliche Gehirn?
Das menschliche Gehirn entwickelt sich bis ins junge Erwachsenenalter. Gerade in frühen Jahren sind vielfältige Sinneserfahrungen essenziell, um neuronale Verknüpfungen optimal auszubilden – ich denke dabei ans Krabbeln, Berühren, Riechen und Schmecken. Babys und Kleinkinder brauchen dafür Interaktion mit ihren Bezugspersonen sowie eine natürliche und anregende Umgebung. Übermässige Bildschirmzeit kann diese natürliche Entwicklung hemmen. Besonders problematisch ist eine passive Mediennutzung ohne Interaktion. Stattdessen sollten Kinder durch interaktives Spielen, kreative Aktivitäten und gemeinsames Lesen gefördert werden. Zu viel Bildschirmzeit, besonders abends, kann den Schlaf und die Konzentration beeinträchtigen. Eine zu starke Reizüberflutung erschwert es dem Gehirn, herunterzufahren.
Wie integriert man einen sinnvollen Medienkonsum in den Familienalltag?
Ein abwechslungsreicher und strukturierter Tagesablauf mit festen medienfreien Zeiten hilft, den Medienkonsum auf ein gesundes Mass zu begrenzen. Familien können gemeinsam Regeln aufstellen, zum Beispiel, dass Handys während der Mahlzeiten, den Hausaufgaben und gemeinsamen Aktivitäten beiseitegelegt werden. Alternative Freizeitaktivitäten wie Sport, Musik oder gemeinsame Unternehmungen sind ebenfalls hilfreich. Wichtig ist zudem, dass Eltern selbst als Vorbild fungieren. Kinder beobachten ihre Umwelt sehr genau und übernehmen Verhaltensweisen aus ihrem Umfeld. Wenn sie sehen, dass ihre Eltern ständig am Smartphone sind – etwa beim Warten auf den Bus oder in anderen Leerlaufzeiten –, werden sie dieses Verhalten imitieren. Auch die Fähigkeit, Langeweile auszuhalten und kreative Lösungen dafür zu finden, sollte gefördert werden, anstatt jede freie Minute mit digitalen Medien zu füllen.
Wann ist ein eigenes Smartphone sinnvoll?
Ob ein Kind bereit für ein eigenes Smartphone ist, hängt nicht allein vom Alter ab, sondern vor allem von seiner persönlichen Reife und Medienkompetenz. Ein guter Zeitpunkt für ein Smartphone mit allen Funktionen ist oft der Beginn der Oberstufe. Es ist wichtig, dass Kinder den Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Inhalten verstehen, die Risiken im Internet kennen. Eltern sollten ihnen altersgerecht erklären, dass nicht alles im Internet echt ist und es dort leider Menschen gibt, die Kindern und Jugendlichen nicht wohlgesinnt sind. Eine schrittweise Einführung, beispielsweise durch ein gemeinsam genutztes Familiengerät, kann hilfreich sein. Auf unserer Website gibt es eine Checkliste, um abzuschätzen, ob ein Kind bereit ist für ein eigenes Gerät. Ausserdem sollten Eltern mit ihren über Sicherheitsmassnahmen sprechen und sie dabei unterstützen, die Privatsphäre-Einstellungen auf ihrem Gerät vorzunehmen.
Welche Apps und Plattformen sind geeignet, welche problematisch?
Eltern sollten sich vorab über Apps und Plattformen informieren und sie testen, um sicherzustellen, dass sie altersgerecht sind, nicht zu viele Daten sammeln oder versteckte Kostenfallen enthalten. Es gibt zahlreiche pädagogisch wertvolle Apps, die Kreativität, Problemlösungsfähigkeiten oder soziale Interaktionen fördern. Verschiedene Labels und Altersempfehlungen für Games, Filme und Apps können als Orientierung dienen. Besonders bei sozialen Medien sollten Eltern bedenken, dass viele Plattformen erst ab 13 Jahren empfohlen werden. Instagram, Snapchat und TikTok nutzen etwa Algorithmen, die das Belohnungssystem im Gehirn aktivieren und eine gewisse Abhängigkeit erzeugen können. Hinzu kommt das kritische Schönheitsideal, das dort vermittelt wird – eine grosse Herausforderung! Deshalb ist es wichtig, dass Kinder und Jugendliche den verantwortungsvollen Umgang mit diesen Medien erlernen.
Wenn Kinder sehen, dass die Eltern ständig am Smartphone sind, werden sie dieses Verhalten imitieren.
Anja Meier über die Vorbildfunktion der Erziehungsberechtigten.
Sind technische Massnahmen wie Jugendschutzfilter sinnvoll?
Ja, sie können eine sinnvolle Unterstützung sein, um für das Alter unangemessene Inhalte zu blockieren und Bildschirmzeiten zu begrenzen. Wichtig ist jedoch, diese Massnahmen transparent mit den Kindern zu besprechen, anstatt sie heimlich zu überwachen. Eltern sollten eine Vertrauensbasis aufbauen und ihre Kinder ermutigen, offen über ihre Online-Erfahrungen zu sprechen.
Wie erklärt man Kindern Privatsphäre und Online-Gefahren?
Das Thema Datenschutz lässt sich mit einfachen Vergleichen verständlich machen – zum Beispiel mit einem Tagebuch. Nicht jeder sollte alles lesen können. Kinder müssen früh lernen, dass Inhalte im Internet langfristig gespeichert und weiterverbreitet werden können. Eltern sollten ihrem Kind vermitteln, dass es vorsichtig sein muss, wenn Fremde im Internet Kontakt aufnehmen, und dass es keine privaten Informationen preisgeben soll. Zudem sollten sie wissen, dass sie auf ihr Bauchgefühl hören und unangenehme Nachrichten oder Personen ignorieren oder blockieren können. Falls sie sich unwohl fühlen, sollten sie wissen, dass sie sich an eine Vertrauensperson oder Beratungsstelle wenden dürfen.
Was tun, wenn Regeln nicht eingehalten werden?
Wenn Kinder heimlich online sind oder die vereinbarten Regeln nicht einhalten, sollten Eltern dies nicht mit harten Strafen ahnden, sondern das Gespräch suchen. Auffällige Anzeichen wie Rückzug, Schlafmangel oder Konzentrationsprobleme können auf eine problematische Mediennutzung hinweisen. Statt starre Verbote auszusprechen, sollten gemeinsam Strategien entwickelt werden, um einen besseren Umgang mit digitalen Medien zu fördern. Eine mögliche Lösung ist, dass Kinder ihre Bildschirmzeit flexibler einteilen oder alternative Freizeitaktivitäten ausprobieren.
Beratung für Eltern
Pro Juventute ist für Eltern da und bespricht mit ihnen Erziehungsfragen. Im Zentrum der Beratung steht immer das Kind. Telefonische Beratung unter 058 261 61 61, per E-Mail an elternberatung(at)projuventute.ch oder per WhatsApp.
Mehr Infos