Ich sitze auf dem Melkstuhl und berühre das Euter unserer Kuh Ruth. Mit der anderen Hand kraule ich nebenan dem Mädi den Bauch. Beide Kühe geniessen meine Liebkosungen. Ich sinniere vor mich hin, genug Zeit habe ich, Melken ist eine schöne Sache, geht mir durch den Kopf. Vor allem im Winter habe ich jeweils das Melken genossen, mit der Wange die Wärme des Kuhkörpers zu spüren – was gibt es Schöneres. Keine Hektik im Stall, während ich mit unseren zwei Standeimern von hinten nach vorne, von einer Kuh zur anderen wechselte. Jeder Kuhname prägte ich mir ein, kannte ihre Väter und wusste, von welchem Stier sie ihre ungeborenen Kälber in sich trugen – kein Kunststück bei zehn Kühen.
Heute hat dieses Bild Seltenheitswert. Betriebe unter 20 Kühen sind rar geworden, Betriebe mit Standeimern schon fast ausgestorben. Was früher im Stall noch von Hand gemacht wurde, wird heute immer mehr von der Technik übernommen. Das Melken, das Füttern, das Misten, die Brunst-, die Gesundheitsüberwachung und und und. Hingegen prangen an den Verkaufsläden Plakate mit der Aufschrift: Ein Naturprodukt und bodenständig produziert – ein Dilemma das zwischen Konsumenten und Produzenten noch zunehmen wird.
Wunschdenken versus Realität
Der Verbraucher verlangt immer mehr eine Ballenberg-Landwirtschaft, eine Produktion am liebsten mit Pferden, eine Produktion mit behornten Kühen, eine Produktion wie zu Gotthelfs Zeiten. Aus der Forschung heisst es hingegen, die Industrialisierung im Kuhstall sei nicht mehr aufzuhalten. Dass diese aber auch etwas kostet, ist wohl jedem bewusst. Bezahlt von den Bauern, bezahlt aus dem tiefen Milchpreis. Heute hat sich das automatische Melken etabliert. Keiner schaut mehr misstrauisch, wenn der Nachbar einen Melkroboter installiert.
Auch die automatische Fütterung ist auf den grösseren Betrieben zum Standard geworden und die sensorgestützte Tierüberwachung wird künftig auch das Herdenmanagement übernehmen. All diese Technik ist der Ersatz für den Grossätti, der früher noch stundenlang rauchend auf dem Stallbänkli sass, die Kühe beobachtete, den Mist mit der Gabel entfernte und von Hand die Chrüpfe mit Gras und Heu füllte. Heute ist das Stallbänkli vielerorts verschwunden, im Laufstall für immer. Mit ihm auch der Grossätti, der früher noch Zeit fand, sich jedem Tier anzunehmen, dabei jede stierige Kuh erkannte und die Bindung gegenseitig festigte.
Anpassung an die Marktentwicklung
Die Milchviehhalter sind leider ständig gefordert, sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen. Auch Konsumenten und Handel nehmen mehr und mehr Einfluss auf die Milcherzeugung. Steigende Marktanteile von Biomilch, Wiesenmilch oder Milch mit wenig Fettanteil deuten auf eine stärkere Produktdifferenzierung hin. Diese Marktentwicklung hat auch Auswirkungen auf die Art und Weise der Milchviehhaltung in den eigenen Ställen.
Ein geringer Antibiotikaeinsatz und Prävention sind die Zukunft – und wir können dabei helfen. Ob eine Kuh eine Krankheit bekommt oder nicht, hängt von der Balance zwischen Infektionsdruck einerseits und Widerstandsfähigkeit andererseits ab. Besonders bei Stressmomenten nimmt die Widerstandsfähigkeit ab. Stress bei Kühen wird durch Veränderungen bei der täglichen Routine verursacht. Dem haben Kühe von Natur aus nichts entgegenzusetzen. Kühe können schlecht mit Veränderungen umgehen, daher wäre ein täglicher Körperkontakt zwischen Mensch und Tier vorteilhaft.
Die Landwirtschaft im Wandel
Im letzten Jahrzehnt vollzog sich ein starker Wandel im Blick auf die Landwirtschaft. Vor allem die Nutztierhaltung sieht sich vielen neuen Herausforderungen ausgesetzt. Während sich immer mehr Menschen von der praktischen Landwirtschaft entfernen, nimmt die öffentliche Diskussion über und die Einflussnahme auf die Nutztierhaltung zu. Aus ökonomischer Sicht befinden sich Nutztierhalter in einem Konflikt zwischen grundsätzlich engen Gewinnspannen und der Zunahme an Auflagen, die zumeist steigende Kosten mit sich bringen.
Die Forderungen aus der jeweiligen einseitigen Perspektive des Ressourcenschutzes, des Naturschutzes, des Tierschutzes oder Klimaschutzes sind oft nachvollziehbar. In ihrer Gesamtwirkung und teilweisen Widersprüchlichkeit tragen sie aber dazu bei, betriebliche Entwicklungen nicht mehr zuzulassen, stark einzuschränken oder mit wirtschaftlich hohen Mehrkosten zu belasten. Insofern erscheinen die (alten) Rezepte der Spezialisierung, der Professionalisierung und des quantitativen Wachstums oft nicht mehr tauglich.