86 879 Gemelke hat Fritz Trachsel aus Rüeggisberg BE bis zur Corona-Zwangspause gewogen. Seit 33 Jahren ist er Milchkontrolleur. Durchschnittlich auf 20 Betrieben erfasst er die Milchleistung der Kühe und manchmal auch Ziegen. Festgehalten hat er das alles feinsäuberlich in seinen Büchern. Er mag Zahlen, das merkt man sofort, wenn man mit ihm spricht. Lachend zitiert er ein paar Ohrmarken der Kühe aus seiner Kindheit. Erzählt, wie damals noch ein Kälbermarkierer von Stall zu Stall ging, die glänzenden Metallknöpfe in die Ohren der Kälber einzog und das gezeichnete Signalement überprüfte. Und wie er abends am Küchentisch die neuen Ohrmarkennummern aufzählte. Einige davon sind bis heute in seinem Gedächtnis geblieben, wie das von Kuh Enzian, die fast gleich alt war, wie der kleine Fritz.
Milchkontrolle füllt unzählige Büchlein
Nur zweimal in den 33 Jahren hat Fritz Trachsel seine Milchwägertätigkeit längere Zeit unterbrochen: als er die Hüfte operieren musste und ein paar Jahre später wars die Schulter. So kennt er die Kühe und Landwirte auf dem Längenberg rund um Rüeggisberg gut. Bereits seine 40 000-ste Milchprobe habe er damals gefeiert, er habe gedacht, das sei er jetzt, der Meilenstein. Doch es wurden noch ein paar mehr. Ein ganz besonderer Zufall war es dann auch, als er in seinem 55. Altersjahr die 55 555-ste Milchprobe wägen konnte. Er weiss noch an welchem Tag und welche Kuh es war. 80 000 waren es dann im Mai 2018. Damals füllten seine Aufzeichnungen über die Milchkontrolle bereits dreissig Büchlein, die er feinsäuberlich im Keller stapelt. Und natürlich wurden diese Jubiläen gefeiert. «Eine Zeit lang war es Mode, dass man zusammen mit dem Milchwäger eine Flasche Weissen aufmachte, wenn eine Kuh über 40 kg Tagesmilch hatte», erzählt Trachsel. Heute sei das nichts Besonderes mehr und da seine Betriebe alle nach AT4 nur noch einmal im Tag Milch wägen, kenne er die Tagesmilch nicht mehr. Früher habe er, während er auf die Gemelke wartete, noch die Tagesmilch der Kühe ausgerechnet. Für ihn ist die Milchkontrolle mehr Dienstleistung als Kontrolle.
Daten online erfassen
Nach den Lehrjahren, der Handelsschule, dem Militär und dem Schwand arbeitete Fritz Trachsel zuerst in der Landi Rüeggisberg. Als dann der Sigrist und Friedhofwart pensioniert wurde, bekam er diese Stelle, die er bis heute innehat. «Das war damals nur ein 80-Prozent-Pensum, also brauchte ich noch etwas dazu», erklärt er, wie er zum Milchwägen kam. Vorher machte das der Zuchtbuchführer. «Allerdings war es ihm im Winter dann zu gefährlich, mit dem Auto unterwegs zu sein, also konnte ich auch dieses Amt von ihm übernehmen», erinnert sich Trachsel. So rückte Fritz Trachsel fast jeden Morgen und jeden Abend zu einem anderen Betrieb aus. Damals war die Milchkontrolle noch morgens und abends und gemolken wurde in den Standeimer. Dafür war es in den Ställen warm und der Milchwäger musste im Winter noch nicht den Kugelschreiber in der Hosentasche auftauen.
Der Umstieg aufs Handy
Trachsel ist keiner, der den alten Zeiten nachtrauert. Dass die Welt sich ändert, nimmt er wie es ist, geht mit der Zeit. So ist er als einer der ersten aufs Handy umgestiegen, erfasst die Daten seit kurzem online. Das gehe fast schneller als vorher von Hand und er mit seiner grossen Schrift habe eh immer Mühe gehabt mit den kleinen Zahlenfeldern. «In meinen Anfängen als Milchkontrolleur hat es für jeden Fehler auf den Kontrollblättern einen Lohnabzug von fünfzig Rappen gegeben», lacht er und hält fest, er habe in zehn Jahren rund 2,50 Franken Abzug gehabt. Seine gewissenhafte und umtriebige Art schätzen auch die Pferdezüchter. Bei der Pferdezuchtgenossenschaft Amt Seftigen ist er Geschäftsführer. So ist er nicht nur bei den Kühen auf den Schauplätzen zugegen, sondern auch bei den Pferden.
Jedes Tier ist recht
Auf den Viehschauplätzen jedoch kennt er die meisten Kühe und kannte auch schon ihre Mütter und Grossmütter. Spätestens, wenn er den Namen auf dem Plättli liesst, weiss er in welchen Stall die Kuh gehört. Und er terminiert auch mal seine Milchkontrolle so, dass es noch für den Laktationsabschluss und eine bessere Note an der Schau reicht. Man spürt es in seinen Worten, er mag seine Bauern und er mag Kühe. Auf die Frage, ob es eine Lieblingskuh gebe, antwortet er diplomatisch: «Als Milchkontrolleur sieht man manches, jeder macht es ein bisschen anders. Für mich ist jedes Tier recht und wenn einer auf Wasserbüffel umstellt, gehe ich auch dort Milchwägen. Schon nur bei der Art und Weise, wie die Kälber getränkt werden, unterscheiden sich die Betriebe», erzählt er. Da habe jeder so sein Rezept, wie es bei ihm funktioniere. Und während beim einen das Kalbedatum der Kühe immer feinsäuberlich auf der Stalltafel nachgetragen ist, muss der andere zuerst nachschauen, welche Kuh er gerade melkt. So seien die Menschen verschieden. Werten will und tut Fritz Trachsel das nicht. Er kennt die Familien lange, hat die Geburt der Kinder miterlebt, wie sie in die Schule gingen, den ersten Schatz heimbrachten, selbst den Betrieb übernahmen, dies oder jenes sich änderte. Und er begleitet viele auch auf dem Friedhof beim letzten Gang, organisiert als Sigrist die Begräbnisse.
Bald mehr Zeit
Und nun, in diesem historischen Frühjahr 2020 ändert sich auch für Fritz Trachsel viel. Am 17. März musste er wegen Corona seine Milchwäger-Tätigkeit auf unbestimmte Zeit unterbrechen. Genau zwei Monate später hat er Geburtstag, wird 65 und damit bei der Kirche pensioniert. «Ich freue mich auf mehr freie Zeit, mehr Zeit, die ich mit meiner Frau in der gemieteten Alphütte verbringen kann», schaut er dem neuen Lebensabschnitt entgegen. Wann er wieder für die Milchkontrolle ausrücken kann, weiss noch niemand. Die Milchwäger sind überaltert, gehören fast alle der Risikogruppe an. Somit dürfte die Milchkontrolle noch für einige Zeit nicht möglich sein. Von seinen Landwirten hätten alle Verständnis für die Situation. Denn auch alle Landwirte kennen Fritz Trachsel gut und wissen: wenn er nicht ausrückt für die Milchkontrolle, ist die Lage ernst.