Internationale Experten gehen davon aus, dass im weltweiten Milchmarkt die Nachfrage bis 2050 um knapp die Hälfte über das Niveau von 2020 ansteigen wird. Wenn die Schweizer Landwirtschaft etwas von diesem grossen Kuchen haben wolle, müsse die hiesige Milchproduktion wettbewerbsfähig werden, appelliert Christian Gazzarin.
Der ETH-Agronom forscht bei Agroscope zum Thema Unternehmensführung und Wertschöpfung. Seiner Meinung nach setzt die aktuelle Agrarpolitik für Milchproduzent(innen) durchaus sinnvolle Anreize, indem sie graslandbasierte Systeme fördert. Bei der Diskussion um «kostendeckende Preise» lege man besser den Fokus auf die Kosten statt die Preise, erklärt der Fachmann im Interview.
Herr Gazzarin, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit der Wirtschaftlichkeit in verschiedenen Produktionszweigen und -richtungen. Worin unterscheidet sich da die Produktion von Milch etwa von der Rindfleischproduktion?
Christian Gazzarin: Die Milchproduktion ist grundsätzlich die effizienteste Form der Rindviehnutzung, gleichzeitig aber auch die arbeitsintensivste. Gehen wir von einer grasbasierten Nutzung aus, ist das Einkommen je Hektare mit der Milchproduktion am höchsten. Bei der Rindfleischproduktion gilt es zu unterscheiden zwischen einer intensiven Nutzung, die stark auf Maissilage und Kraftfutter basiert, und einer extensiven (grasbasierten) Nutzung. Bei der intensiven Form ist die Anzahl Mastplätze für die Wirtschaftlichkeit entscheidend. Bei der extensiven Form braucht es ebenfalls grössere Tierbestände und viel (direktzahlungsberechtigte) Fläche, um mit der Milchproduktion gleichzuziehen.[IMG 2]
Sind sich Schweizer Landwirt(innen) Ihrer Erfahrung nach bewusst, welche Faktoren die Wirtschaftlichkeit ihrer Betriebe bestimmen?
In der Schweiz ist aufgrund der kleineren Strukturen der Strukturkostenanteil sehr hoch. Da wissen einige nicht, was sie effektiv für einen Betriebszweig aufwenden. Bei Strukturkosten spricht man auch von «sunk costs» – einmal bezahlte, grosse Aufwendungen, die nach Bezahlung versunken oder vergessen sind.
Welche wären das?
Das Trio Arbeits-, Maschinen- und Gebäudekosten ist oft matchentscheidend. Man darf in einem oder zwei der drei Bereiche hohe Kosten aufweisen, muss dann aber mindestens in einem anderen Bereich sehr tief liegen. Letztlich kommt es dann auf die Summe an. Investitionen ergeben also ökonomisch nur Sinn, wenn für das produzierte Kilogramm Milch deutlich weniger Arbeitszeit benötigt wird, was nur bei optimaler Auslastung bzw. mit einer Ausdehnung der Produktionsmenge möglich ist. Diese sogenannte Arbeitsproduktivität kann aber auch mit wenig Geld erreicht werden, wie z. B. mit einer ausgedehnten Weidehaltung, wenn die Arrondierung gegeben ist. Auch Ergänzungsfutter sind ein grosser Kostentreiber, sofern diese aufgrund eines Fehlmanagements nicht effizient eingesetzt werden.
Kostendeckende Preise sind ein grosses (politisches) Thema. Ist das der richtige Weg, um die Milchwirtschaft rentabler zu machen?
Im Begriff «kostendeckende Preise» steckt das Wort «Kosten». Hier gilt es anzusetzen, denn eine Preisveränderung ist viel komplexer und vom einzelnen Betrieb sowieso nicht beeinflussbar. Preise sind in erster Linie von Angebot und Nachfrage beeinflusst. Wenn etwas nicht mehr abgesetzt werden kann, weil der Preis zu hoch ist, nützt das niemandem. Entscheidend ist ja das Einkommen und letztlich ist jeder nicht ausgegebene Franken ein zusätzliches Einkommen.
Was sollte der erste Schritt sein, wenn man feststellt, dass der eigene Betrieb rote Zahlen schreibt?
Bei den sogenannt «roten Zahlen» gilt es zu unterscheiden: Kann ich die Rechnungen nicht mehr bezahlen, geht es an die Liquidität, d.h. mein Cashflow ist nicht mehr ausreichend, um meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Diese Situation ist schwerwiegend und sozial relevant, weil man täglich «schuftet» und auf keinen grünen Zweig kommt. Wenn es dann noch an die Gesundheit geht, ist eine grundlegende Veränderung dringend, was am besten mit einer Spezial-Beratung besprochen werden sollte.
Was können «rote Zahlen» sonst noch bedeuten?
Der zweite Fall eines negativen Einkommens tritt etwas häufiger auf. Nach Vollkostenrechnung verdient man gar nichts mehr pro Arbeitsstunde, ja legt sogar noch drauf. Der Cashflow kann aber immer noch ausreichend sein, um zumindest einen Teil des Lebens finanzieren zu können.
Wie äussert sich diese Situation, wenn man unter dem Strich nichts mehr verdient?
Dieses «Drauflegen» betrifft die Investitionen, der Betrieb kann nur noch beschränkt oder gar nicht mehr investieren. Ein solcher Betrieb ist ökonomisch nicht nachhaltig. Als Auslaufbetrieb ist alles okay. Soll der Betrieb aber von einem Nachfolger(in) übernommen werden, ist eine grundlegende Betriebsanalyse notwendig, wobei zusammen mit der Beratung eine Neuausrichtung diskutiert werden sollte.
Kann man von Berufskollegen lernen, um rentabler zu werden, oder unterscheiden sich die Betriebe mit Milchvieh hierzulande zu sehr voneinander in puncto Rassen, Intensität, Region, Grad der Automatisierung, Standortvoraussetzungen usw.?
Auf alle Fälle kann man voneinander lernen! Ich schätze den Managementeffekt auf das wirtschaftliche Ergebnis etwa auf 25 Prozent. Das heisst, bei gleichen strukturellen Voraussetzungen kann ein Betrieb im Durchschnitt 25 Prozent tiefere Kosten ausweisen als ein anderer Betrieb – einfach, weil er das bessere Kostenmanagement hat. 25 Prozent tiefere Kosten bedeuten entsprechend mehr Einkommen. Geld für Equipment, Maschinen usw. auszugeben, kann zweifelsohne eine Lust sein. Doch vielleicht möchte man ja auch mehr Ferien, eine grössere Küche oder Geld für die Ausbildung der Kinder beiseitelegen.
Führt der Weg zur Wirtschaftlichkeit weg vom gemischten Familienbetrieb mit ein paar Milchkühen auf der Weide?
Die Milchproduktion profitiert ganz klar von den «Economies of scale». Mit anderen Worten: Menge zählt. In der Schweiz können Betriebe mit 50–150 Kühen immer noch als übersichtliche Familienbetriebe funktionieren. Weniger Kühe, dafür ein gutes Kosten-Management sowie ein hoher Weideanteil ermöglichen mindestens gleichwertige Einkommen. Milchproduktion ist ein Geschäft für Profis. Und Profis verzetteln sich nicht – sie fokussieren und lernen, besser zu werden.
Die Politik fördert die graslandbasierte Milch- und Fleischproduktion (GMF) und eine längere Nutzungsdauer von Milchkühen. Untergräbt das die Rentabilität von Milchwirtschaftsbetrieben?
Im Gegenteil. Milchbetriebe sollten sich gut mit der aktuellen Agrarpolitik auseinandersetzen. Sie fördert klar eine grasbasierte Milchproduktion mit möglichst wenig Ergänzungsfutter. Wer sich dagegen stemmt, riskiert entsprechend Einbussen in der Rentabilität. Neue Modellberechnungen auf Basis von Buchhaltungszahlen zeigen, dass Kühe mit 6000 Litern Jahresmilch mit GMF-tauglicher Fütterung und einer längeren Nutzungsdauer ähnlich profitabel sind wie solche mit 9000 Litern.
Was verbessert Ihrer Meinung nach auf jedem Betrieb – unabhängig von Produktionsrichtung und Region – die Wirtschaftlichkeit?
Kostenbewusstsein ist das A und O. Ein erster Schritt ist eine Betriebszweiganalyse – z.B. mit Agri-Perform, einem Excel-Tool, das wir gratis zur Verfügung stellen. Damit können rentable und unrentable Betriebszweige identifiziert und gegebenenfalls Massnahmen ergriffen werden.
Fokus Kosten optimieren
Am Donnerstag, 12. Juni lädt IP-Suisse zum «Tag der Landwirt(innen)» auf den Hof Märchligen in Allmendingen bei Bern. Die kostenlose Veranstaltung dreht sich um das Thema Kostenoptimierung in der Landwirtschaft. Zu den Referenten zählen neben Agroscope-Forscher Christian Gazzarin Landwirte aus verschiedenen Landesteilen.
Flyer zum Anlass: www.ip-suisse.ch