Eine grosse Wiese voller leuchtend gelbem Löwenzahn. Ausser Vogelgezwitscher und einem weit entfernten Rasenmäher ist nichts zu hören. Es ist Corona-ruhig. Oder ist es hier immer so? Wie aus dem Nichts durchbricht ein Juchzer die bedächtige Atmosphäre. Er kommt aus der Kehle von Sonja Morgenegg, die mit ihrem handgeschnitzten Jodeltrichter auf der Wiese steht. Und plötzlich scheint ein Hauch wilder Unbeschwertheit über die Wiese zu wehen.

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Sonja Morgenegg am Fotoshooting mit Philipp Griesemer. (Video Cornelia von Däniken)

«Im Thurgau gibt es eigentlich keinen eigenen Naturjodel», weiss die 43-Jährige. Sie ist in ihrem heutigen Wohnort Münchwilen TG auch aufgewachsen, auf dem Landwirtschaftsbetrieb der Eltern. Doch die Grosseltern aus der Innerschweiz jodelten und im Stall lief Jodelmusik aus dem Radio – für die Kühe. Sonja Morgenegg, die schon als Kind gern und viel sang, brachte sich das Jodeln übers Zuhören selber bei. «Ich habe einfach von Herzen gern gejodelt und wusste nicht, warum.»

Jodel-Verband: zu viele Regeln

Mit 20 besuchte sie einen «richtigen» Jodelkurs und setzte sich im Rahmen ihrer Abschlussarbeit im Lehrerseminar ein Jahr lang intensiv mit dem traditionellen Schweizer Jodel auseinander. Im Kurs wurden ihr vor allem der Verbandsjodel nähergebracht und die Jodelregeln erklärt. «Das war mir zu reglementiert, das hat mir nach zwei Jahren abgelöscht.» Jodeln war erst mal vom Tisch.

Nach dem Lehrerseminar arbeitete Sonja Morgenegg einige Jahre als Primarlehrerin. Dann entschied sie sich für ein Vollzeit-Studium an der Jazz-Schule in St. Gallen. Seit 17 Jahren tritt sie nunmehr als professionelle Sängerin auf kleineren und grösseren Events und Bühnen auf. Zudem arbeitet sie als freischaffende Lehrerin für Gesang und Stimmbildung.

Mut zur Improvisation beim Jodeln

Ihre stimmlichen und gesanglichen Fähigkeiten entwickelt sie bis heute bei verschiedenen Lehrern weiter. Vor allem die Improvisation hat es ihr angetan: Musik die ganz aus dem Moment entsteht, ohne Noten, ohne Vorgaben. Die ursprünglichste Form dafür ist für Sonja Morgenegg a cappella, mehrstimmiger Gesang ohne Instrumentalbegleitung.

Grundsätzlich gebe es zwei Wege, um mit Musik die Gefühlswelt der Zuhörer zu erreichen, erklärt die Ostschweizerin. Entweder übt man ein komponiertes Stück monatelang, bis es so sitzt, dass die Musik Emotionen vermittelt. Diesen Weg wählen die meisten hochkarätigen Profi-Musiker und Sänger. «Oder man vertraut dem eigenen Können und dem der anderen und legt einfach los.»

Dazu braucht es eine Verbindung zu sich selbst und den anderen. Die Bereitschaft, in sich hinein zu horchen und aufeinander zu hören. Es braucht zudem Mut, alle Ängste und Bedenken loszulassen, genauso wie die Idee, man müsse jetzt eine Show liefern. «Schafft man das, kommt eine innere Ruhe. Aus dieser Ruhe entsteht manchmal eine Musik, die einem zu Tränen rührt.»

Heimatklänge auf Hawaii

Um ihr Wissen über Improvisation zu vertiefen, zog es Sonja Morgenegg bereits mehrmals nach Hawaii, wo sie bei Sängerin Rhiannon Master-Kurse belegte. Die 75-Jährige tourte früher im Voicestra des amerikanischen Sängers und Dirigenten Bobby McFerrrin um die Welt.

«Die Stimme ist etwas ganz Privates.»
Sonja Morgenegg

Rhiannons Kurse gehen über das Technische hinaus. Zu ihrem Ansatz gehört, dass Stimmentwicklung und Improvisation ohne Persönlichkeitsentwicklung nicht möglich sind. «Denn die Stimme ist etwas ganz Privates, Persönliches. Beim Singen lieferst du dich völlig aus.» Auf Hawaii entdeckte Sonja Morgenegg auch die Freude am Jodeln wieder. «Ich dachte, ich sei keine richtige Jodlerin, weil ich keine Tracht trage. Doch seit meinem ersten Aufenthalt auf Hawaii erlaube ich mir, so zu jodeln, wie es zu mir passt.»

Was passt, ist der eher raue Naturjodel. «Das Archaische und Wilde daran hat mich angesprochen.» Sie lernte Muotathaler Juuz, georgischen Jodel und Joik, den kehligen, traditionellen Gesang der Samen. Im Gegensatz zum Jodellied mit Text, wie es vorwiegend vom Jodelverband gepflegt wird, kommt der Naturjodel ohne Worte aus. Er kann kantig und für Laien auch schräg klingen, besteht nur aus Silben und einer Melodie. Sie habe nichts gegen den Jodel-Verband, betont die Sängerin. Der Verband pflege die Traditionen. Doch das sei nicht ihre Aufgabe. «Ich widme mich lieber der Weiterentwicklung des Jodels.»

freies Jodeln: Experimentieren erlaubt

In der freien Jodelszene, mit der sich Sonja Morgenegg verbunden fühlt, ist Experimentieren nicht nur geduldet, sondern erwünscht. In der «Jodlerei», einem monatlich stattfindenden freien Jodelanlass mitten in der Stadt Zürich, fand sie ihre musikalische Familie. Dort wird Jodel unter anderem mit verschiedenen Musikstilen aus aller Welt kombiniert. Bekannte Vertreterinnen sind zum Beispiel Erika Stucky oder Pionierin Christine Lauterburg. Als diese in den Neuzigerjahren zu Technobeat jodelte, ging ein empörter Aufschrei durch die Reihen der traditionellen Volksmusik.

Internationales Trio

Dass es Sonja Morgenegg zu neuen Jodel-Welten zieht, zeigt sich auch bei ihrem jüngsten Projekt: Gemeinsam mit dem irischen Pianisten John Wolf Brennan und dem arabischen Multi-Perkussionisten Tony Majdalani gründete sie das Trio «Sooon».

Die Musik beinhaltet Elemente von Schweizer Volksmusik, Jodel, schamanischen Gesängen, arabischer Musik, Irish Folk und Jazz. «Alpine Worldmusic mit Karawanen-Jodel», wie es die drei auf der Band-Website schreiben. Die Lieder auf der ersten CD «Youtz Now» kommen alle ohne Text aus, erreichen die Zuhörer nur mit Melodie, gesungenen Silben oder Fantasiesprache. «Dabei kann man sich in eine eigene Welt träumen.»

Thurgauer Jodelschule

Ihre Freude am Jodeln gibt Sonja Morgenegg seit rund sechs Jahren auch in Kursen weiter, in denen Naturjodel, Jodellieder und Improvisation einen festen Platz haben. Sie unterrichtet ihre Schülerinnen und Schüler im Gesangskeller in ihrem Haus in Münchwilen. Seit der Trennung von ihrem Mann vor fünf Jahren lebt sie hier mit ihrer heute 15-jährigen Tochter Nina allein. «Es war eine harte, aber lehrreiche und wertvolle Zeit», erinnert sie sich.

In ihre Kurse kommen Profi-Sänger wie Laien, von denen viele Jodeln lernen möchten, um einem Chor beitreten zu können. «Jodeln lernen kann jeder», sagt Sonja Morgenegg. «Erlaubt man sich, unperfekt zu sein, kommt dabei eine grosse Freiheit und Freude auf. Denn der Jodel soll von Herzen kommen.»

Corona-Kreativität

Auch die Jodelschule musste in der Corona-Krise schliessen. Da zudem alle Auftritte abgesagt wurden, fielen von einem Tag auf den anderen sämtliche Einnahmen weg. «Doch ich erlebte eine ungeheure Solidaritätswelle von meinen Schülern. Und ich entwickelte in der Not neue Ideen.» Wie etwa ein Online-Jodelkurs. Oder personalisierte Geburtstagslieder auf Bestellung.

Mehr auf die Jodel-Bühne

Ihr Wunsch für die Zukunft? Mehr auftreten! Solange die Tochter klein war, hatte sie bewusst auf Reisen und weit entfernte Auftritte verzichtet. Sie nutzte die Zeit für Aus- und Weiterbildungen. «Jetzt bin ich offen dafür, mit meiner Musik in die Welt zu gehen. Mich mehr zeigen, wie ich bin. Und auch mal aushalten, dass mich einige Traditionalisten etwas zu wild finden.»

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Im Video stellt sich Sonja Morgenegg kurz vor und gibt ihre Jodelkünste zum Besten. Weitere Informationen zur Person auf sonja-morgenegg.ch. (Video Cornelia von Däniken)

Alle Fotos: Philipp Griesemer

 

Jodel gibt es überall

In der Schweiz hat jede Region eine eigene Bezeichnung fürs Jodeln. In Appenzell heisst es zäuerlen, zauen oder auch rucuserle. Im Toggenburg wird gejoolt, in der Innerschweiz gezutzt, im Muotathal gezuuzt. In Obwalden heisst es jujuitzten und im Bernbiet wird gejutzt, mit «tz». 

In den deutschsprachigen Alpenländern entwickelten sich in den letzten zwei Jahrhunderten aus dem Naturjodel oft mehrstimmige Volkslieder mit angehängtem Jodel-Refrain. Doch beim ursprünglichen Jodeln geht es nicht um harmonisches Singen. 

Dem Jodeln sehr ähnliche Gesänge findet man weltweit. Zum Beispiel bei den Pygmäen, in Japan, bei den Inuit, im arabischen Raum, in China, Thailand und auf Papua-Neuguinea. In Spanien, ganz Skandinavien oder auch in Polen, Rumänien und Georgien. Nicht zuletzt hat Jodeln in der amerikanischen und australischen Country-Musik seinen festen Platz.