Abo Das Mittelland zeigt von oben ein Mosaik mit Ackerbau und Weideland. Wie bewirtschaftet wird, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab. Flächennutzung Ist die Schweiz eigentlich zum «Grasland» bestimmt? Wednesday, 31. May 2023 Eine standortangepasste Landwirtschaft – das wird oft gefordert. Die Produktion soll sich an den örtlichen Gegebenheiten mit Boden und Klima orientieren. Ausserdem muss sie zu den Betriebsstrukturen und den Bewirtschaftenden passen – schliesslich ist nicht jeder leidenschaftlicher Tierhalter oder begeistert sich für den Ackerbau. Doch nicht weniger entscheidend bei der Frage, was in der Schweiz produziert wird, ist das Zeitgeschehen. Das verdeutlicht der statistische Dienst des Schweizer Bauernverbands Agristat mit einem historischen Rückblick bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts.

Umbruch durch Eisenbahn

Das erste einschneidende Ereignis war der Ausbau der Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts. Der neue Transportweg verbilligte Importe massiv, schreiben Federica Ciulla und Daniel Erdin von Agristat. «Der bisherige Distanzschutz aufgrund hoher Transportkosten fiel weg.» Das hatte v. a. Auswirkungen auf den Pflanzenbau: Wachsende Mengen günstiges Getreide aus dem Ausland liessen die inländischen Flächen schrumpfen. Der Weinbau erlebte einen starken Rückgang, da mit den Importen der Echte und der Falsche Mehltau sowie die Reblaus eingeschleppt wurden. «Viele Landwirtschaftsbetriebe mussten sich neu positionieren», so das Fazit. An Bedeutung gewannen die Milchproduktion und die Schweinehaltung.

In die andere Richtung drückte der Erste Weltkrieg die Bestände. Die Landesversorgung war durch stark eingeschränkten Aussenhandel erschwert, die Preise stiegen und brachten viele Haushalte in finanzielle Nöte. Kurzfristig sanken in der Folge die Rinder- und Schweinebestände in der Schweiz.

Wohlstand – weniger Ziegen

Die Ziege als «Kuh der armen Leute» dient quasi als Indikator für den Wohlstand der Bevölkerung: In den «Roaring Twenties» von 1919 bis 1929 gingen die Geissenbestände zurück. In dieser Zeit erholten sich die Wirtschaft sowie die Rinder- und Schweinehaltung von der Baisse als Folge des Ersten Weltkriegs. «Die Industrie entwickelte sich und die landwirtschaftliche Produktion hatte gute Bedingungen», beschreibt Agristat.

Die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung – und der Rückgang der Ziegenbestände – wurde durch die Wirtschaftskrise ausgebremst. In dieser «grossen Depression» in den Jahren 1930 bis 1938 sanken die Preise, ebenso die Nachfrage nach tierischen Lebensmitteln. Als Reaktion darauf schrumpften die Rindvieh- und Schweineherden.

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Nie ganz unabhängig

Auch während des Zweiten Weltkriegs war die tierische Produktion weniger gefragt, während der Pflanzenbau mit dem Plan Wahlen hochgefahren wurde. Dadurch stieg der Selbstversorgungsgrad (SVG), «die Schweiz blieb trotzdem auf Importe angewiesen, vor allem beim Getreide», erläutern Daniel Erdin und Federica Ciulla.

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 und der Anbauschlacht unter dem Plan Wahlen sanken die Anbauflächen für Getreide und Kartoffeln wieder, pendelten sich aber auf höherem Niveau ein als in der Zwischenkriegszeit. Der Bevölkerung ging es wirtschaftlich wieder besser, man konnte sich Milch- und Fleischprodukte eher leisten. Darauf reagierte die Landwirtschaft mit einem raschen Ausbau der Rindvieh- und Schweinhaltungen. Ziegen verloren erneut an Bedeutung.

Ab 1966 ging es mit der Produktivität steil bergauf. Mechanisierung, Dünger und Pflanzenschutz, Hochertragssorten und leistungsstarke Nutztiere nennt Agristat als Ursache. Maschinen ersetzten die als Arbeitstiere gehaltenen Pferde. Rinder und Schweine blieben auf dem Vormarsch, in den 170ern überflügelten Letztere in der Schweiz zahlenmässig erstmals den Rindviehbestand.

Produzentenpreise im Sinkflug

Und es trat ein weiteres neues Phänomen auf: Zum ersten Mal folgten die Produzentenpreise nicht mehr der allgemeinen Teuerung, wofür wahrscheinlich die Zunahme der Produktivität verantwortlich sei, vermutet Agristat.

Um satte 27 % tauchte der Produzentenpreisindex Landwirtschaft 1990–2005. Im Gegensatz zu den früheren Entwicklungen hatte das aber einen rein politischen Grund, nämlich das schrittweise Ende der Preisstützung für Landwirtschaftsprodukte. Sie hatte in den 80ern zunehmend zu Überschüssen geführt. Man führte das Direktzahlungssystem ein, was die Trennung von Einkommens- und Preispolitik sowie die Abgeltung ökologischer Leistungen ermöglichte.

2007 herrschte eine weltweite Nahrungsmittelkrise, für die es verschiedene Erklärungsansätze gibt und die in erster Linie durch globale Höchstpreise für Getreide, Milch und Pflanzenöle geprägt war. Im selben Jahr trat in der Schweiz der Käsefreihandel mit der EU in Kraft, später folgte die Aufhebung der Milchkontingentierung. Kurzfristig stieg danach die hiesige Milchproduktion, was einen höheren Preisdruck im Schweizer Milchmarkt verursachte. «In mancher Hinsicht folgte eine ziemlich stabile Phase», so Agristat. Es gab wenig Veränderungen bei den Direktzahlungen und auf tieferem Niveau stagnierende Produzentenpreise. Bis in den letzten Jahren die Corona-Krise und der Krieg in der Ukraine die Karten neu mischten. Die Effekte der Teuerung mit höheren Kosten für Produktionsmittel seien immer noch spürbar.

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«Nicht beliebig ausbaubar»

Zusammenfassend könnte man sagen: Die Ausdehnung der Tierproduktion war die Reaktion auf einen hohen Importdruck bei pflanzlichen Lebensmitteln, unterbrochen von der Forcierung des Pflanzenbaus wegen tiefer Haushaltseinkommen bzw. für eine bessere Inlandversorgung während der Weltkriege.

Zur Forderung nach einer standortangepassten Landwirtschaft gesellt sich aktuell explizit jene nach einer Reduktion der Tierproduktion. Agristat verzeichnet einen leichten Rückgang des Pro-Kopf-Verbrauchs tierischer Lebensmittel in den letzten Jahren. Allerdings falle heute die Hälfte der landwirtschaftlichen Produktionswerte in der Tierproduktion an, während der Ackerbau lediglich 7 bis 8 % beisteure, geben Daniel Erdin und Federica Ciulla zu bedenken, und weiter: «Aufgrund der WTO-Vereinbarungen und der vielen Freihandelsabkommen kann die Produktion pflanzlicher Nahrungsmittel aus inländischen Rohstoffen nicht beliebig ausgedehnt werden.» Das aktuelle Zollsystem stamme zu einem guten Teil aus dem letzten Jahrhundert, erklärt Erdin. Damals hätten etwa Körnerleguminosen wie Soja noch kaum eine Rolle gespielt. «Entsprechend gibt es in vielen Bereichen ungenügenden oder fehlenden Zollschutz.» Das sei auch bei den verarbeiteten Produkten der Fall, namentlich bei Backwaren. Hinzu kämen anbautechnische Hürden im Pflanzenbau. Die historischen Daten zeigen: Was als standortangepasst gilt, bestimmen nicht nur Boden und Klima, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft – und damit die Politik.