Vor dem Fenster senkt sich ein Staubsauger-Arm zu der Ladung Saatgetreide, die ein Landwirt gerade in zwei Anhängern angeliefert hat. Schnell sind die Proben gezogen, die Feuchtigkeit bestimmt und die Körner landen in der Gosse. «Wir haben zwei Gossen», erklärt Jacques Demierre, Direktor der ASS Société coopérative des sélectionneurs in Moudon VD. «Eine ist fürs Saatgetreide reserviert.» Die ASS hat vor zwei Jahren in den Bereich Saatgut und Ackerkulturen für die menschliche Ernährung (Speisesamen) investiert. Pro Stunde können 60 t Getreide angenommen werden, in 111 Zellen hat es Platz für die Lagerung von 4500 t.
Diverses Saatgut
Die ASS hat eine lange Geschichte, sie wurde bereits 1909 gegründet. Damals fand die Sortenentwicklung noch auf den Feldern der Landwirte statt, die im Laufe der Jahre von «Züchter-Landwirten» zu Sortenvermehrern wurden.
Heute gehören 280 Saatgut-Produzenten aus den Kantonen Genf, Waadt, Neuenburg, Freiburg und dem Wallis zur ASS-Genossenschaft, die neben 50 verschiedenen Getreidesorten auch Pflanzkartoffeln und Saatgut für Mais, Soja, Erbsen, Lupinen und Klee anbauen. Als Vermehrungsorganisation begleitet die ASS die Produzenten und führt Feldkontrollen durch. «Das ist eine sehr wichtige Arbeit», betont Jacques Demierre. «Wenn es auf dem Acker gut läuft, ist alles Weitere viel einfacher.»
Nach der Ernte geht es in der ASS-Zentrale weiter. Betriebsleiter Martin Walter führt durch das fünfstöckige Gebäude gleich beim Bahnhof, in dem Ende Juli die Maschinen brummen. «Nach jedem Batch bzw. jeder Sorte werden die Leitungen gereinigt», erklärt Walter in der obersten Etage, wo das Erntegut in Lagerzellen fliesst. Die Reinigung geschieht mit Bürsten und Druckluft vollautomatisch, damit in keiner Ecke oder Förderkette ein Korn oder Samen liegen bleibt. Die Genossenschaft sichert ihren Kunden mit maximal einem Fremdkorn pro 250 000 Körnern bei Brotgetreide eine höhere Reinheit zu als das für die Zertifizierung gesetzlich festgelegte Minimum.
Mit Vorteil zertifiziert
Die meisten Abnehmer verlangen bei Vertragsproduktion die Verwendung von zertifiziertem, Schweizer Saat- und Pflanzgut. Swisssem erklärt die Vorteile folgendermassen:
Qualität: Das verwendete Basissaatgut für die Vermehrung, Feldbesichtigungen während des Anbaus und Laboranalysen des Ernteguts sind klar geregelt und gewährleisten Sortenechtheit, -reinheit, hohe Keimfähigkeit und Gesundheit.
Ertragssicherheit: Gute Gesundheit und hohe Keimfähigkeit sorgen für einen schnellen und gleichmässigen Auflauf sowie einen lückenlosen Bestand.
Saatgut mit Zertifikat hat seinen Preis. Swisssem betont aber auf der Kostenseite die Vorteile zuverlässig keimender Samen, gesunder Bestände und Sauberkeit in Bezug auf Unkrautsamen. Nicht zuletzt sicherten Lizenzeinnahmen den Züchter(innen) ein Einkommen, das wiederum die Weiterentwicklung der Sorten ermöglicht. «Reisst diese Kette ab, so steht der Pflanzenbau bald ohne moderne, konkurrenzfähige Sorten und damit ohne Zukunft da.»
Auch kleine Mengen
Für die breite Palette an Körnern und Samen, die von der ASS angenommen und gereinigt werden, gibt es Zellen in verschiedenen Grössen. «Wir sortieren auch kleine Mengen, etwa von Direktvermarktern, die nur ein paar Tonnen anliefern», sagt Jacques Demierre und ergänzt: «Wir können eigentlich alles sortieren.»
Eine von zwei Sortieranlagen der ASS ist speziell ausgerüstet für empfindliches Körner wie Mais, Hülsenfrüchte oder Speisesamen. Um Bruch zu vermeiden, wird solches Erntegut nie im freien Fall befördert, sondern schonend auf Förderbändern transportiert. Auf ihrem Weg durch das hohe Gebäude durchläuft die Ware je nach Bedarf eine ganze Palette von Maschinen, die Unterschiede in Grösse, Gewicht oder Aussehen zur Sortierung nutzen.
Letzteres ist eine neue und für die ASS wichtige Investition, ein optischer Farbausleser. «Über den drei Kanälen machen drei Kameras über 100 000 Fotos pro Sekunde», schildert Martin Walter die Funktionsweise des Geräts. Je zwei Kameras arbeiten im UV-Bereich, die Bilder werden von einer Software beurteilt, der Durchsatz hängt vom Erntegut ab. Die optische Sortieranlage kam heuer vermehrt auch wegen Mutterkorn im angelieferten Getreide zum Einsatz.
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Eine Palette in drei Minuten
Sauberkeit ist nicht nur in den Rohren wichtig, die sich durch alle Stockwerke von einer Maschine zur nächsten in den beiden Sortierketten ziehen, sondern auch rundherum. «Wir werden einmal im Monat kontrolliert», hält der Betriebsleiter fest. Mehlmotten, Kornkäfer, Mäuse – diverse Schädlinge gilt es im Griff zu haben. «Meistens ist das kein Problem», versichert Martin Walter, «aber Hygiene ist wichtig.»
Das gilt auch für die Trennung von Saatgut und Lebensmitteln, v.a. wenn Ersteres vor Ort bei der ASS gebeizt wird. Es kommen eine separate Waage und Abpackstrasse zum Einsatz, wenn es ans Absacken geht. «In drei Minuten haben wir eine Palette voll», sagt Walter zur Abpackleistung der Anlage.
Etikettiert und seitlich mit einem Code versehen landen die Säcke im Lager, das sich über mehrere Etagen und Räume erstreckt. Übersicht und Organisation ist in der Zentrale alles – von der Annahme und Aufbewahrung der Rückstellmuster (drei Proben pro Lieferung, jeweils vor und nach der Reinigung, eingelagert für drei Jahre), dem Weg durch Reinigungs- und Sortieranlagen, in und aus den Zellen bis zum Abpacken und Parkieren im Lager. Für die Zertifizierung als Z-Saatgut gehen pro 30 t 1,5 kg zur Analyse an Agroscope. Die Farbe der Etikette auf dem Sack zeigt die Vermehrungsgeneration des Inhalts an.
Die ganze Zentrale ist mit allen Förderstrassen inklusive Schiebern, Maschinen und Zellen auf den Bildschirmen im Erdgeschoss abgebildet. Zusätzlich gibt es das Ganze Analog in Form bunter Karteikarten an der Wand. Nichts darf verloren gehen oder versehentlich vermischt werden – es geht um Sicherheit, Zuverlässigkeit und eine faire Abrechnung für alle Produzenten und Kunden.
Um die Keimfähigkeit zu erhalten, wird das Saatgut schonend bei maximal 40 Grad getrocknet. Sie braucht Posten von mindestens 3–4 t und ist aus diesen Gründen nicht fürs Trocknen von Lebensmittelkernen geeignet.
Auslastung im Frühling
Hingegen reinigt die ASS pro Jahr mittlerweile 200–300 t Kerne und Samen von Produzenten auch aus der Deutschschweiz. Die moderne Sortieranlage kommt für eine breite Palette von Kulturen zum Einsatz, von Chia über Flachs, Leindotter, Senf, Buchweizen, Soja, Erbsen, Kichererbsen, Ackerbohnen, Lupinen, andere Auskernbohnen, Mais, Hartweizen, Einkorn und Sorghum bis hin zu Sonnenblumen. Damit könne man die Anlage im Frühling nutzen, wenn es keine Getreideannahme gibt und damit Zeit und Kapazität bleibt für diese Dienstleistung.
«Es ist kein riesiges Volumen», räumt Jacques Demierre ein. «Aber es ist interessant, hilft uns, die Sortieranlage auszulasten und wir könnten noch mehr annehmen.» Er ist sich bewusst, dass es für solche Kulturen einen Markt braucht. Demierre sieht jedoch durchaus Potenzial. «Der fehlende Zollschutz ist ein Problem, aber verschiedene Verarbeiter entdecken die Swissness und Städte setzen in ihren lokalen Strategien auf Produkte aus der Region.»
Ein Beispiel für Ersteres ist etwa Schweizer Senf, der unter der Marke Hugo Reitzel im Detailhandel Einzug gehalten hat. Man sollte die Möglichkeiten im Bereich der Ackerkulturen für die direkte menschliche Ernährung nicht überschätzen, findet der ASS-Direktor. «Aber es gilt, bereits zu sein und mögliches Potenzial zu nutzen.» Dafür ist man in Moudon gerüstet.
Weniger Stolz, mehr Rentabilität im Blick: «Das ist logisch, aber auch gefährlich»
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«Die Reinigung und Sortierung des Ernteguts vom Acker ist genauso wichtig, wie der Anbau selbst», ist Jacques Demierre überzeugt. Da er die Produktion von Saatgut ebenso schätzt wie dessen Verarbeitung, fühlt er sich in Moudon am richtigen Ort.
Start auf gemischtem Betrieb
Seit diesem Frühling ist er Direktor der ASS, zuvor war über 20 Jahre lang bei IP-Suisse Romande und als Leitung der Weichkäserei Le Grand Pré tätig. «Ich durfte bei IP-Suisse viele verschiedene Hüte tragen», meint Demierre. Noch etwas weiter zurück liegt sein Wirken in der M-Industrie bei Optigal bzw. Micarna. Das sei auch sehr interessant gewesen, «die Seite der Industrie erleben.» In sein Berufsleben gestartet ist Demierre auf einem gemischten Betrieb mit Milchvieh und Ackerbau im Kanton Freiburg.
Mit der Saatgut-Branche betritt der Westschweizer somit für ihn berufliches Neuland. «Ich hatte immer das Gefühl, die Saatgut-Produktion sei mit gewissem Stolz verbunden», schildert Jacques Demierre. Nur die besten Landwirt(innen) hätten sich früher darum gekümmert, diese Basis für den einheimischen Ackerbau zu legen. «Heute ist das nicht mehr so stark der Fall», stellt er fest. Die jüngere Generation habe in erster Linie die Rentabilität der Kulturen im Blick. «Das ist logisch, aber auch gefährlich.» Gefährlich sei es deshalb, weil durch fehlendes (wirtschaftliches) Interesse und aufgrund wachsender Betriebe weniger Arbeitskräfte für eine grössere Fläche mit der Abkehr von der Produktion von Saat- und Pflanzgut sehr viel Wissen verloren gehe. Das sei wie bei der Milchproduktion, «wenn man mit dem Saatgut aufhört, fängt man nicht wieder damit an.»
Der Rückgang der Flächen zur Saatgut-Produktion beschäftigt die ASS, aber auch der rückläufige Anbau von Getreide generell. «Es ist schwer zu sagen, ob es eine vorübergehende Entwicklung oder ein langfristiger Trend ist», findet Jacques Demierre.
Aktuelles Beispiel: Mutterkorn
Was die Saatgut-Produktion betrifft, denkt er, dass man sie künftig agrarpolitisch vielleicht gesondert behandeln müsste. Herbizidfreier Anbau sei eine sinnvolle Sache, für Saatgut von hoher Qualität aber schwierig. «Ich habe bei IP-Suisse Herbizidfrei selbst gepusht und unterstütze die Entwicklung in diesem Bereich. Aber sie hat Nebenwirkungen.» Aktuell zeige sich das etwa im Mutterkorn-Besatz, der in diesem Jahr zwar nicht flächendeckend und heftig, aber doch vermehrt auftritt. Das stellt man auch bei der ASS-Zentrale in Moudon fest. «Das Management der Felder ist ebenfalls sehr wichtig geworden. Auf den Getreideflächen hat es mehr Gräser als früher», gibt Jacques Demierre zu bedenken. Und die könnten auch Wirte für den Mutterkornpilz sein.
Agroscope-Forscher Josep Massana bestätigt auf Anfrage, das Vorkommen von Gräsern auf oder in der Nähe der Parzelle könne eine Infektionsquelle für Mutterkorn sein. «Verschiedene Faktoren können das Auftreten dieses Pilzes im Getreide begünstigen», so Josep Massana. Dazu gehörten auch eine hohe Last infektiösen Materials nach einem für den Mutterkorn-Pilz günstigen Jahr (nasses 2024), ungünstige klimatische Bedingungen für die Getreideblüte (z. B. eine unzureichende Befruchtung einiger Blüten) oder etwa eine getreidelastige Fruchtfolge und Anbaumethoden, die den Abbau der Mutterkorn-Überdauerungsstadien hemmen.
Mehr Flexibilität ermöglichen
Die Verwendung von hochwertigem, zertifiziertem Saatgut gehört zu den Handlungsempfehlungen der Getreidebranche, um Mutterkorn zu vermeiden. Damit es hierzulande weiterhin wirtschaftlich produziert werden kann, braucht es nach Meinung von Jacques Demierre mehr Flexibilität. «Je nach Fläche und Jahr kann man nicht nach einer einzigen Anbaumethode produzieren oder muss wetterabhängig schnell reagieren können, damit die Kultur gesund bleibt», erklärt er. «Ich befürchte, dass das in der agrarpolitischen Diskussion gerade vergessen geht.» Die Saatgut-Produktion sei eine eher unbekannte, aber sehr wichtige Sache. «Heute ist mir das auch viel mehr bewusst als früher.»
