«Mein Bruder und ich haben den Betrieb am 1. Januar übernommen – ein halbes Jahr später ist nicht mehr viel übrig», sagt Giorgia Mattei. In der Nacht auf den 30. Juni änderte sich auf ihrer Azienda Turistica in Sant’Antonio in der Valle di Peccia alles. «Es hat ganz stark geregnet, 200 ml in 4 bis 5 Stunden», erinnert sich Mattei. Eine solche Menge vermochte der ohnehin schon durchnässte Boden nicht mehr zu schlucken. Hinter dem Haus ging ein Murgang nieder, das Hochwasser veränderte die ganze Landschaft. «Unser Stall liegt jetzt mitten in einem Flussbett», sagt Mattei. «Zum Glück leben die Tiere alle noch.»

Sie selbst war – wie viele Bewohner des Tals – am Grümpelturnier im Dorf Peccia. Im Festzelt bemerkte sie nicht viel mehr als ein starkes Gewitter. Schwester und Mutter, die daheimgeblieben waren, hätten aber später berichtet, dass das ganze Haus gezittert habe, «als alles heruntergekommen» sei, wie Mattei erzählt. Sie musste die Nacht auf dem Fussballplatz verbringen – die Brücke war weg. «Am nächsten Tag hat ein Bauer einen Baum über den Bach gefällt als provisorische Brücke», erinnert sich Mattei. Wieder zu Hause angekommen, folgte der grosse Schock: Der Stall war zerstört, die Maschinen in Sand, Steinen und Holz begraben. «Es war ein schwieriger Moment», sagt sie.

Weg durchs Flussbett

Als das Unwetter über Sant’Antonio hereinbrach, befand sich ein grosser Teil der Tiere auf einer Wiese weiter hinten im Tal. Sie wurden kurz darauf auf die Alp gebracht – «das Gras wurde knapp, weiter hinten war die Strasse aber noch intakt», so Mattei. Schwieriger war es mit ihren eigenen Hochlandrindern, die sich auf einer Weide weiter vorne befanden. «Auf der einen Seite schnitt ein Murgang den Weg ab, auf der anderen Seite war die Strasse weg», beschreibt sie die Situation. Damit waren die Rinder eingeschlossen.

Mit dem Zivilschutz konnte schliesslich ein behelfsmässiger Weg durch das Flussbett gebaut werden. Über einen alten Weg, der ebenfalls von zwei Murgangkegeln zerschnitten worden war, konnten die Tiere schliesslich ebenfalls auf die hintere Weide getrieben werden. «Das dauerte ein bisschen», sagt Giorgia Mattei bescheiden. Die Tiere kamen erst eine Woche später auf die Alp.

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Angst vor der roten Zone

Die Aufräumarbeiten kommen voran. Dennoch ist die Zukunft des Betriebs alles andere als gesichert. Sie hängt nicht zuletzt von dem grossen Projekt ab, das die Familie seit Jahren verfolgt: vom Bau eines neuen Stalls. Er soll die Arbeit im Winter effizienter machen – auf 1056 Meter über Meer liegen in dieser niederschlagsreichen Gegend jeweils bis zu zwei Meter Schnee. Endlich sah es so aus, als ob es grünes Licht für die Baubewilligung gebe – nun ist nicht klar, ob an dem Ort überhaupt noch gebaut werden darf. «Der Kanton hat einem Privatbüro ein Mandat gegeben, um zu evaluieren», weiss Mattei. Bis dieses so weit ist, herrscht banges Warten. Mattei ist klar: «Wenn das hier alles rote Zone wird, sind wir verloren.»

Die Angst treibt viele der Betroffenen in den Unwettergebieten im Maggiatal und im Misox um. Die Versicherung, der Wiederaufbau, das ist das eine. Aber werden die Behörden die Nutzung in Zukunft überhaupt noch erlauben? Und kann das verwüstete Land überhaupt wieder für den Betrieb genutzt werden? Betroffen sind in den beiden Regionen je rund ein Dutzend Biobetriebe. «Im Lavizzara-Tal ist eine Rückkehr zu den Betrieben eventuell nicht möglich», gibt David Hermann von Bio Suisse Auskunft. Entsprechend gross sei die Unsicherheit. Er hofft, dass Betriebsumstellungen oder gar -aufgaben vermieden werden können. Kurzfristig versuche Bio Suisse, den Betroffenen entgegenzukommen, sagt Hermann. So werde zusammen mit den Kontrollstellen administrative Entlastung geboten. Können die Betriebe wegen der Folgen des Unwetters die Bioregeln vorübergehend nicht erfüllen, könnten sie einen Antrag bei der Zertifizierungsstelle einreichen, so Hermann weiter.

Die Heuwiesen sind weg

Nötig wird das vor allem bei der Fütterung werden. «Die meisten haben keine Flächen mehr, um Heu zu machen», schildert Valentina Acerbis von Bio Ticino die Situation. Auch was die Biodiversität angehe, sehe es dort nicht gut aus. «Man muss räumen und neu ansäen», so Acerbis. Verschärfen wird sich das Problem, wenn das Vieh im Herbst von den Alpen zurückkommt. Manche Bauern müssten ihre Tiere über den Winter wohl bei anderen Biobetrieben verstellen, stellt Herrmann in Aussicht.

Nur der TP 25 läuft noch

Das könnte auch Giorgia Mattei drohen. Mittlerweile seien doch noch alle Tiere auf die Alp gekommen. «Wir konnten zusammen mit dem Zivilschutz einen provisorischen Weg bauen», sagt sie. Noch sei aber unklar, wie man das Vieh im Herbst wieder ins Tal bringen könne – vielleicht müsse dafür ein weiterer provisorischer Weg angelegt werden. Auch dann werde es aber noch schwierig sein, die Weiden zu wechseln. An Heuen sei derzeit nicht zu denken: «Alle Maschinen sind kaputt», so Mattei. «Überlebt» hat nur der alte Aebi TP 25. Durch das mit riesigen Steinblöcken durchsetzte neue Flussbett schafft es aber auch der nicht. Mattei hofft nun, dass der noch weiter hinten im Tal gelegene Marmorsteinbruch die Dinge ins Rollen bringen kann. Dieser ist ebenfalls von der Strasse abhängig, die beim Unwetter weggerissen wurde. «Wenn der Betrieb nicht läuft, verlieren sie jeden Tag Geld», sagt Mattei.

Sie geht davon aus, dass bald eine provisorische Strasse erstellt wird. Und sie hofft, dass sie selbst über den Winter im Tal bleiben kann. Seit dem Unwetter wohnen die Geschwister mit Lebenspartnern und Eltern im Haus der Grossmutter, zwei Kilometer vom Betrieb entfernt. Bevor sie wieder in ihrem Haus einziehen können, müssen eine Schutzmauer gebaut und das Heizungssystem neu gemacht werden.

Erst die Autobahn, dann Studien

Ungewissheit herrscht auch 50 km weiter östlich im Misox. Dort hatte das Unwetter Ende Juni zugeschlagen. Seit die Autobahn über den San Bernardino in Rekordzeit wiederhergestellt wurde, ist es still geworden um das Bündner Südtal. «In meiner Umgebung wurde noch nichts gemacht», sagt Biobauer Mauro Venzin aus Cama. Der Kanton wolle zuerst eine Studie machen, sagt er. «Erst wurde die Autobahn geschützt, jetzt will man erst eine Studie», sagt er.

Bisher sei aber niemand vorbeigekommen. Dabei sei seit dem Unwetter schon ein Monat vergangen und der Herbst nicht mehr weit. «Ende September kommen die Schafe zurück, was soll ich dann machen?», fragt er sich. Die Abklärungen mit der Gebäudeversicherung seien längst erledigt. Aber mit dem Wiederaufbau muss er zuwarten, bis die Zone offiziell in Sicherheit ist. Bis jetzt habe er auf dem Betrieb nicht einmal Wasser. Auch das Heuen macht Venzin Sorgen. «Es wäre Zeit für den zweiten Schnitt, aber ich habe nur den Traktor», schildert er seine missliche Lage. «Der Rest der Maschinen steht noch im Schlamm.» Die grösste Schwierigkeit sei aber die anhaltende Unsicherheit: «Es gäbe so viel Arbeit, und man hat keine Antworten, keinen Termin.»