Als kleines Vögelchen, das mit seinem orangen Brustgefieder leicht zu erkennen ist und sich gegenüber Menschen auffällig zutraulich verhält, ist das Rotkehlchen ein Sympathieträger. Angelockt von zutage geförderten Regenwürmern und aufgeschreckten Insekten kommt es herbei, wenn irgendwo im Garten Erde umgestochen wird. Im Umgang mit Artgenossen sieht es aber ganz anders aus: «Zickig ist fast eine Untertreibung», sagt Livio Rey von der Vogelwarte Sempach. Rotkehlchen seien nämlich extrem territoriale Vögel. «Bei Revierkämpfen geht es heftig zu, teilweise sogar bis zum Tod», so der Ornithologe.
Optische Warnung
Rotkehlchen sind sehr häufig, die hohe Revierdichte sei aber nicht der Grund für das aggressive innerartliche Verhalten. «Es ist einfach eine andere Lebensweise im Gegensatz zu Vögeln, die Gruppen oder Kolonien bilden», führt Livio Rey aus. Damit lässt sich auch das namensgebende rote Gefieder erklären: Es sei eine optische Warnung an alle Rivalen. Rey hat selbst erlebt, was passiert, wenn ein Rotkehlchen buchstäblich rotsieht. Auf einem Spaziergang habe eines die rote Mütze seiner Begleiterin attackiert, bis diese das Kleidungsstück verschwinden liess.
«Bei Kämpfen ums Revier geht es heftig zu.»
Livio Rey, Vogelwarte, über das sehr territoriale Verhalten von Rotkehlchen.
Eigentlich müsste man beim Brustgefieder des Rotkehlchens eher von orange sprechen. Aber in der Zeit, als die Vogelart ihren Namen bekam, war «orange» als Farbbezeichnung noch unbekannt – der Begriff kam erst auf, als die ersten Orangen nach Europa importiert wurden. Die auffällige Farbe hat das Rotkehlchen im Viktorianischen Zeitalter ausserdem zum Weihnachtsboten gemacht. Angelehnt an die rote Kluft der Briefträger, die Weihnachtsgeschenke auszuliefern hatten, platzierten englische Künstler das Vögelchen auf Postkarten und Briefmarken. Heute ziert das Rotkehlchen ebenso Packpapier, Güetzibüchsen und Weihnachtspullover.
Unbemerkter Wechsel
Passend ist das auch deshalb, weil Rotkehlchen im Gegensatz zu anderen Vogelarten ganzjährig beobachtet werden können. Es vollzieht sich aber ein weitgehend unbemerkter Wechsel: Bei jenen, die den Winter hier verbringen, handelt es sich nicht um dieselben wie die Sommerpopulation. «Bei uns überwintern vor allem Rotkehlchen aus Nord- und Osteuropa», erläutert Livio Rey. Schweizer Rotkehlchen ihrerseits fliegen in den Mittelmeerraum. Die winterlichen Zuzüger seien weniger an Menschen gewöhnt als die im Sommer ansässigen Rotkehlchen, was eine Erklärung wäre für ihre fehlende Angst gegenüber der potenziellen Gefahrenquelle Mensch. Das macht es umso einfacher, die niedlichen Vögel im verschneiten Garten zu erkennen.
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Eine weitere Besonderheit der Art ist, dass Rotkehlchen in der kalten Jahreszeit nicht zu singen aufhören. «Im Sommer dient der Gesang der Partnersuche, im Winter geht es um die Verteidigung eines Nahrungsreviers», sagt Livio Rey. Männchen und Weibchen singen gleichermassen, denn beide haben ihr eigenes Territorium.
Die Partnerschaft beschränkt sich auf die kurze Zeit der Brut und Jungenaufzucht. Das offene Nest aus Moos und dürren Blättern wird bodennah platziert, in Löchern, Nischen oder Reisighaufen. Sobald der – anfangs noch gescheckte statt rotkehlige – Nachwuchs flügge ist, werden die farblich nicht voneinander unterscheidbaren Eltern wieder zu Rivalen. Ihr Futter finden Rotkehlchen meist am Boden hüpfend.
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Wenig anspruchsvoll
Wenig scheu, bodenbrütend und dann auch noch jenseits schützender Wipfel auf Nahrungssuche – wie kann ein Vogel mit diesem Lebensstil derart erfolgreich sein? «Rotkehlchen haben wenig Ansprüche», gibt Livio Rey zu bedenken. Während andere Bodenbrüter wie etwa Feldlerchen offene Lebensräume brauchen, schätzt das Rotkehlchen Gehölze aller Art – vom Busch bis zum feuchten Wald. Entsprechend einfach ist es, den sympathischen Vogel in den eigenen Garten zu locken – obwohl Rotkehlchen in der Regel nicht in Nistkästen einziehen. «Es braucht nur etwas Unordnung: liegendes Laub, einen Asthaufen», sagt der Ornithologe. Belohnt wird man mit einem auffälligen Besucher, der trotz bescheidener Grösse als stimmgewaltig beschrieben wird.
