Baumläufer kennen beim Klettern nur eine Richtung: nach oben. «Sie bewegen sich spiralförmig um den Stamm herum in Richtung Krone und fliegen dann zum Fuss des nächsten Baums», schildert Livio Rey von der Schweizerischen Vogelwarte das Verhalten. In der Schweiz gibt es zwei Baumläuferarten, den Garten- und den Waldbaumläufer. Sie zu unterscheiden, benötigt allerdings ein gewisses Mass an Erfahrung. Äusserlich sehen sich diese Vögel sehr ähnlich, weswegen man zur Bestimmung oft auch Rufe und Gesang hinzuziehe. Weiter könne der Lebensraum Hinweise geben: Sieht man den Vogel in einem Garten, so handelt es sich wohl um den Gartenbaumläufer. Im Wald können je nach Lebensraum beide Arten vorkommen.
Vom Klettern zerzaust
Bei den Bildern auf dieser Seite dürfte es sich um einen Waldbaumläufer handeln, schätzt Livio Rey. «Dafür sprechen der relativ kurze Schnabel und die reinweisse Unterseite sowie einige Gefiedermerkmale.» Bis zu drei Kilometer sollen die 12 bis 14 cm kleinen Vögel täglich kletternd zurücklegen, immer auf der Suche nach Nahrung. Dabei helfen ihnen eine lange Hinterkralle am Fuss und die steifen Schwanzfedern. Damit können sie sich wie Spechte am Stamm abstützen, was die Federn allerdings auf Dauer in Mitleidenschaft zieht und sie mit näher rückendem Mausertermin etwas verrupft aussehen lässt. «Waldbaumläufer ernähren sich ausschliesslich von kleinen Insekten und anderen Wirbellosen», führt der Ornithologe aus. Auch im Winter, den die Art in der Schweiz verbringt, gibt es keinen Nahrungswechsel auf Samen oder Körner. In der kalten wie der warmen Jahreszeit gelingt es den Baumläufern, mit ihrem schmalen, gebogenen Schnabel Beute aus der Rinde borkiger Bäume oder aus stehendem Totholz zu fischen.
Das Nest mit Spinnenkokons zusammengeklebt
Borke braucht der Waldbaumläufer nicht nur für die Futtersuche, sondern auch für die Fortpflanzung. «Die Nester werden hinter vorstehenden Borkenstücken platziert», beschreibt Livio Rey. Speziell auf Baumläufer zugeschnittene Nistkästen sind flach mit einem seitlichen, halbkreisförmigen Einflugloch, um die natürliche Unterkunft möglichst gut zu imitieren. Als Nistmaterial kommen ausserhalb von künstlichen Nisthilfen Reisig, Holzstücke und Rinde zum Einsatz, die der Waldbäumläufer mit Spinnenkokons zusammenklebt. Moos, Federn und Tierhaare dienen zur Polsterung der Unterkunft. Besonders energisch in der Revierverteidigung sind Waldbaumläufer Rey zufolge nicht. Während der Gartenbaumläufer aber so weit geht, sich in kalten Winternächten mit bis zu 20 Artgenossen zusammen in eine Baumhöhle zu kuscheln, seien solche Schlafgemeinschaften beim Waldbaumläufer seltener – mit Ausnahme der Jungvögel. Diese schätzen die nächtliche Gesellschaft unabhängig von der Temperatur und verlassen nach etwa zweieinhalb Wochen das Nest. Zu diesem Zeitpunkt können sie zwar schon gut klettern, aber nicht gut fliegen und werden noch rund sieben Tage von ihren Eltern betreut. Wenige Wochen später gehen Alt- und Jungvögel getrennte Wege.
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Zusammen unterwegs
Nicht mit der Familie, aber mit anderen Vogelarten sind Waldbaumläufer im Winter unterwegs. Sie schliessen sich zum Beispiel mit Meisen oder Goldhähnchen zu grösseren Trupps zusammen. Bei der gemeinsamen Nahrungssuche habe jede Vogelart ein etwas anderes Beuteschema, weshalb sich die Konkurrenz in Grenzen halte. «Ausserdem ist so die Wahrscheinlichkeit höher, dass Feinde innert nützlicher Frist entdeckt werden», sagt Livio Rey. Während in der Schweiz vergleichsweise wenig heimische Vögel in solchen gemischten Gruppen unterwegs seien – etwa Finken, Meisen oder Tauben –, sehe man bunt zusammengewürfelte Schwärme in den Tropen häufiger, so der Ornithologe. Dort würden bis zu 50 verschiedene Arten gemeinsam die Wälder durchstreifen.
Zwar sind Baumläufer in der Schweiz relativ verbreitet – vor allem in den Bündner und den Walliser Tälern, in den Voralpen und im Jura, aber weniger stark im Mittelland – sie sind aber viel weniger bekannt als z. B. Rotkehlchen. Das mag neben der kleineren Anzahl Brutpaare unter anderem daran liegen, dass insbesondere Waldbaumläufer vorwiegend im Forst leben und sich weniger auffällig verhalten. Andererseits sieht man die Vögel dank ihrer bräunlichen, gefleckten Oberseite kaum, wenn sie sich an der Borke eines Baums nach oben arbeiten. Entdeckt man dennoch einen huschenden Baumläufer, so ist zumindest die Unterscheidung vom Kleiber auch für Laien möglich. Der nämlich ist auch kopfüber auf dem Weg nach unten anzutreffen.
