«Ein Wald ohne Wisent ist kein vollständiger mitteleuropäischer Wald.» Dieser Meinung ist Otto Holzgang, Leiter des Wiederansiedelungsprojekts Wisent Thal im solothurnischen Welschenrohr. Dass jedoch nicht alle in der Umgebung dieser Meinung sind, haben die Verantwortlichen zu spüren bekommen. Sie brauchten einen langen Atem und den Gang bis vor Bundesgericht, bis die ersten Tiere ihr neues Revier beziehen konnten (wir berichteten). Mitte September war es so weit. Drei Kühe (3-, 4- und 5-jährig), eine mit Jungtier (geboren Juli 2022), sowie ein 3-jähriger Stier sind aus dem Wildnispark Zürich Langenberg nach Welschenrohr umgezogen. Momentan leben die Tiere in einem drei Hektaren grossen Eingewöhnungsgehege.
Die Auswilderung ist das erklärte Ziel
Später stehen der Herde 50 Hektaren zur Verfügung. Nach zwei Jahren wird das Gehege für weitere drei Jahre auf 100 Hektaren ausgedehnt. Ein Teil der Fläche mit Wald und Wiesen gehört dem Landwirt Benjamin Brunner, dessen Hof direkt ans Gehege grenzt. Der grössere Teil der Fläche ist im Besitz der Bürgergemeinde Solothurn. Ziel wäre es, die Wisente nach einer weiteren fünfjährigen Projektphase, bei der die Wisente zwar frei umherstreifen können, aber weiterhin besendert sind und vom Verein kontrolliert werden, komplett auszuwildern, den Zaun vollständig zu entfernen. Aber genau das wollen die Gegner, darunter der Solothurner Bauernverband (SOBV), nicht.
Die Ängste der Gegner ernst nehmen
Die Projektphase diene dazu, die Auswirkungen objektiv aufzunehmen, erklärt Stefan Müller-Altermatt, Präsident des Vereins Wisent im Thal. Parallel soll mit den Gegnern individuell über die Bedenken und die in den wissenschaftlichen Versuchen gefundenen Ergebnisse diskutiert werden. Er begreife die Angst vor den Tieren und vor den Schäden, aber: «Ich bin klar der Meinung, das ist etwas Gutes für die Region», betont er. Otto Holzgang erklärt: «Wir wollen schauen, ob der Wisent mit der Kulturlandschaft und der Mensch mit dem Wisent zurechtkommt. Wir wollen kein Schutzgebiet, wo Menschen keinen Zutritt haben», macht er deutlich.
Der natürliche Instinkt ist tief verwurzelt
Die Nahrung der Wisente besteht aus Blättern, Gras und Kräutern. Momentan würden sie noch mit etwas Heu zugefüttert. Genutzt würden bis zu 120 Pflanzen, weiss Otto Holzgang. Die Tiere waren im Wildpark nur die Weide gewohnt. Bereits am ersten Tag hätten die Tiere aber instinktiv am Waldrand Blätter gefressen. Nach vier Tagen seien sie in den Wald hineingegangen, erzählt der Projektleiter und strahlt dabei. Seine Faszination für die Tiere ist gross, wird immer wieder deutlich. Auch das Interesse der Bevölkerung sei gross, erklärt er. Sonntags kämen zwischen 100 und 200 Besucher(innen). Eine Besucherin vor Ort erklärt, dass sie grosse Freude an den Tieren habe, solange diese hinter dem Zaun stehen würden. Auch wenn sie Bauerntochter sei, habe sie grosse Angst vor Kühen. Entsprechend Sorge bereitet ihr der Gedanke an die Auswilderung.
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Die Wisente pflegen den Waldrand
Landwirt Benjamin Brunner freut sich über die Wisente. Er erzählt, dass mit den Wisenten die Waldbewirtschaftung ganz normal weiterlaufen soll. Er hat die letzten drei Jahre die Ertragszahlen notiert. Es werde spannend, die Zahlen dann mit der Anwesenheit der Wisente zu vergleichen. «Ich habe bereits jetzt Freude», erklärt er, «die machen mir im Eingewöhnungsgehege gratis die Pflege des Waldrandes und dünnen selektiv aus.» Das müsse er sonst alle fünf Jahre selbst machen.
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