Als die Schafe endlich unten im Pferch sind, kann der Hirte Andreas Grossen seine Emotionen nicht mehr zurückhalten: «Das ist doch hier mein Lebenswerk», betont er unter Tränen. Die Müdigkeit und Erschöpfung fordern ihren Tribut. Seit der Alpauffahrt vor einem Monat hat er vergeblich versucht, die Schafe vor dem Luchs zu schützen. «Die letzten drei Tage war ich dort oben bei den Tieren», erzählt er. «Nass bis auf die Knochen, habe ich versucht, weitere Risse zu verhindern.» Nun gibt der 65-Jährige auf, lässt die Besitzer ihre übrig gebliebenen Schafe abholen – begleitet von den Medien, die dem emotionalen Moment beiwohnen und hautnah erleben, was es für die Betroffenen bedeutet, das Zusammenleben mit Grossraubtieren.

Zurück ins Tal

«Seit ich ein kleiner Junge war, bin ich hier auf dem Tschingel in Kandergrund mit meinem Vater auf die Alp gegangen», erzählt Andreas Grossen. Um die Schafe, die zur Sömmerung kamen, hat er sich all die Jahre gewissenhaft gekümmert. «Doch wer soll mir nach dem hier noch seine Schafe anvertrauen?», sorgt er sich. Toni Michel aus Belpberg BE sowie Markus und Stefan Schwendener aus Biglen BE holen heute ihre Schafe zurück ins Flachland. Sechzig Schafe haben sie zur Sömmerung gebracht, wie viele sie noch zurückholen, erfahren sie erst beim Verladen. «Ich habe gemeint, bei mir fehlen zwei Lämmer, jetzt fehlt doch auch eine grosse Aue – eine maximal punktierte», sagt Toni Michel beim Sortieren der Tiere.

Abgenagt bis auf die Knochen

Die Weide oben sehe aus wie ein Schlachtfeld, erzählen die Helfer, die während zwei Stunden versucht haben, im dichten Nebel die verjagten Schafe vom Alpabtrieb zu überzeugen. Bis auf den Luchs hätte es den Wolltieren hier besser gefallen als im Flachland. Das Gras ist hier noch grün und die Temperatur beträgt an diesem Morgen angenehme 16 Grad. «Ich habe alles versucht, um die Tiere zu schützen» betont Andreas Grossen. Er habe auf Empfehlung der Ämter auch Dinge versucht, von denen er seit 20 Jahren wisse, dass sie nichts bringen würden. Einige Schafe tragen am Glockenriemen eine Büchse mit einem stinkenden Vergrämungsmittel, das den Luchs fernhalten soll: «Nicht nur, dass diese Flüssigkeit ätzend ist und die Schafe schädigen kann», betont Grossen, ausgerechnet eines dieser Tiere sei gerissen worden. Auch hätten nun Schafe, die eine Büchse tragen, Durchfall.

In den nächsten Tagen werde er die Weiden aufräumen. Bezahlen werde ihm dieser Aufwand niemand: «Aber ich kann doch all die Knochen und Fellreste nicht einfach liegen lassen – was würden die Leute denken?», fragt Grossen. Er wird das Wenige, was von den elf gerissenen Schafen übrig geblieben ist, ins Tal tragen. Geier haben die Kadaver abgenagt, sodass eine Identifizierung in den meisten Fällen nicht mehr möglich war.

«Unter jedem Busch habe ich jeweils nachgeschaut, stets in der Angst, wieder ein gerissenes Schaf zu finden», betont Grossen. Von den Ämtern habe er sich im Stich gelassen gefühlt. Von dort habe man lediglich kontrolliert, ob er die angeordneten Massnahmen adäquat umsetze. Auf die geforderte Abschussgenehmigung wartete er vergebens. Zuletzt seien sogar seine Telefonanrufe von den zuständigen Ämtern nicht mehr beantwortet worden – bis er aufgeben musste.

Kein typisches Verhalten

Dass ein Luchs bei Nutztieren so grossen Schaden anrichtet, ist nicht alltäglich. Normalerweise reissen Luchse ein Tier und fressen dann mehrere Tage davon, bis es vollständig verwertet ist. Der Luchs im Kandertal griff jedoch die Schafherde zuletzt fast täglich an und liess sich auch von Blinklampen, der Behirtung oder Vergrämungsmitteln nicht beeindrucken. Auch die Medienstelle des Berner Jagdinspektorats betont, dass dieser Luchs ein sehr untypisches Verhalten zeige. Man sei aktuell dabei, die Modalitäten mit dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) abzuklären und einen Abschuss des schadstiftenden Luchses vorzubereiten.

Geier erschweren die Arbeit
Auch die Vereinigung zum Schutz von Wild- und Nutztieren vor Grossraubtieren im Kanton Bern hat sich engagiert, um eine Abalpung zu verhindern. Der Präsident Thomas Knutti betont: «Auch wenn jetzt die Schafe weg sind, fordern wir weiterhin den sofortigen Abschuss dieses Luchses.» So habe es auf Nachbaralpen weiterhin Schafe, die nun ins Beutefeld dieses Luchses rücken dürften. Dieser hatte zuletzt auf der Alp Tschingel sogar ausgewachsene Auen gerissen. Dass in dieser Region auch Geier ihr Futter suchen, mache es nicht einfacher, die Risse rechtzeitig zu entdecken.

Handlungsspielraum nutzen
Auf der Alp Tschingel werden laut aktuellem Stand acht Schafe den Besitzern entschädigt und dem Luchs angerechnet. Drei weitere Schafe sind spurlos verschwunden und werden nicht entschädigt. Thomas Knutti betont, dass der Kanton bezüglich des Abschusses eines derart auffälligen Luchses seinen Handlungsspielraum zu wenig genutzt habe. Mit einer rechtzeitigen, wirkungsvollen Unterstützung des Alpbewirtschafters hätte eine Abalpung verhindert werden können. Doch in der Eile sei schliesslich nichts anderes übrig geblieben, als die Schafe von der Alp zu nehmen. Insbesondere seien im entscheidenden Moment vonseiten Kanton keine Signale zur raschen Klärung der Situation gekommen.