Die Kuh liegt am Boden. Gestern hat sie gekalbt, alles sah danach aus, als ob sie gut in die nächste Laktation starten würde. Jetzt aber zeigt sich, dass sie ohne medizinische Hilfe nicht mehr aufstehen kann. Der Bauer nimmt sein Handy zur Hand und meldet sich bei seiner Tierarztpraxis. Innert einer halben Stunde ist eine junge Tierärztin auf Platz. Innert einer Stunde steht die Kuh. Noch bevor das der Fall ist, hat die Tierärztin den Hof aber bereits wieder verlassen. «Ruf mich an, wenn sich ihr Zustand innert kürzester Zeit nicht verbessert», ruft sie dem Bauern in der Abkalbeboxe zu. Dann packt sie ihren Mantel zusammen, wirft das Stethoskop ins Auto und braust davon. Sie muss zu einem Rind, das im Auslauf verunfallt ist.
Sorgenkind Notfallmedizin
Die geschilderte Situation ist auf Milchviehbetrieben und in Tierarztpraxen Alltag. Und noch ist in vielen Regionen wenig davon zu spüren, dass die Notfallmedizin im Grosstierbereich nicht mehr überall sichergestellt ist.
«Viele Praxen haben Mühe, offene Stellen zu besetzen», erklärt Patrizia Andina-Pfister, Tierärztin für Wiederkäuer, Tierarzneimittel und tierärztliche Tätigkeiten bei der Geschäftsstelle der Gesellschaft Schweizer Tierärztinnen und Tierärzte (GST). Im Bereich des Nachwuchses sehe es etwas anders aus. «Die Studienplätze der Veterinärmedizin sind nach wie vor sehr begehrt. Jedes Jahr bewerben sich weit mehr Kandidierende auf einen Studienplatz, als Plätze vorhanden sind. Die Zahl ist durch den Numerus clausus begrenzt», sagt Andina-Pfister.
Regionale Unterschiede
Wenn die Praxen ihre freien Stellen schlecht besetzen können, stellt sich die Frage, ob die Anzahl der praktizierenden Tierärzte noch ausreichend ist, um eine Notfallversorgung im Nutztierbereich sicherzustellen. «Dank dem enormen Einsatz der Nutztierärztinnen und Nutztierärzte können die Notfälle im Nutztierbereich bis jetzt versorgt werden. Eine im Jahr 2018 durchgeführte Studie zeigte, dass die grundsätzliche Versorgung regional unterschiedlich ist. Die Situation hat sich seither weiter verschärft. Viele Nutztierärztinnen und Nutztierärzte wünschen sich zudem bessere Bedingungen für den Notfalldienst», weiss Patrizia Andina-Pfister.
Struktur ist relevant
Gewisse Herausforderungen liegen auch im strukturellen Bereich. «In vielen Randregionen gibt es weniger und weiter auseinander gelegene Landwirtschaftsbetriebe. Die weiten Anfahrtswege werden nicht kostendeckend verrechnet. Meistens deckt eine Praxis ein oder mehrere Täler ab. Wenn eine solche Praxis schliesst, kann es zu schwierigen Situationen kommen», ist man sich bei der GST bewusst.
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Der Tierarztberuf wird zunehmend zur Frauensache. Während in Bern 2021 84 % der eidgenössischen Diplome an Frauen vergeben wurden, waren es an der Universität Zürich gar deren 91 %. «Wichtig ist, dabei zu sehen: Die Entwicklung des Frauenanteils im Veterinärberuf geht mit einer generellen Zunahme der Frauen in medizinischen Studienrichtungen einher, wenn sie auch in der Veterinärmedizin besonders ausgeprägt ist», weiss Patrizia Andina-Pfister.
Der steigende Frauenanteil bringe eine erhöhte Nachfrage nach Teilzeitarbeit mit sich. Dies gehe jedoch einher mit einem insgesamt zunehmenden Bedürfnis nach einer besseren Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Freizeit in der jungen Generation der Tierärzteschaft wie auch in der Gesellschaft. Dazu gehörten unter anderem geregelte und planbare Arbeitszeiten, sagt die Tierärztin.
Erhöhung der Studienplätze
Eine künftig ausreichende Versorgung mit Nutztierärztinnen und Nutztierärzten erfordert daher laut GST verschiedene Massnahmen. «Dazu gehören strukturelle Anpassungen in den Praxen, eine verstärkte Zusammenarbeit insbesondere beim Notfalldienst, modernisierte Arbeitsbedingungen, eine verbesserte Vereinbarkeit von Familie und Beruf und nicht zuletzt eine konsequente und kostendeckende Verrechnung der tierärztlichen Leistungen», sagt Andina-Pfister. Die GST strebt zudem eine Erhöhung der Studienplätze an.
Ketten übernehmen
Ein Teil der Strukturbereinigung passiert über «Ketten» wie Vettrust oder Swissvet (im Besitz von Swissgenetics). Solche Unternehmen übernehmen Praxen von Tierärzten, die in Pension gehen. «Die Lösung der aktuellen Herausforderung sind grössere Stützpunkte», erklärt Samuel Kohler, der als Tierarzt heute die angehenden Agronomen an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften (HAFL) in Zollikofen BE unterrichtet. Die grossen Konzerne kämen mit administrativen Lösungen, welche den Tierärzten Entlastung bringen. Das wird die Zukunft sein. Von daher steht für den Dozent fest, der lange Zeit in Belp selbst als Tierarzt praktizierte: «Ob Ketten oder privat, grosse Stützpunkte sind die Zukunft.»
«Nutztierhalter werden die Situation am meisten spüren»
Tierarzt Hansjakob Leuenberger hat sich im Interview mit der BauernZeitung zur Situation geäussert. [IMG 3]
Wo sehen Sie die Gründe für den Tierärztemangel?
Hansjakob Leuenberger: Die Gründe sind vielfältig. Einer ist der hohe Frauenanteil. Einige Frauen zieht es nach dem Studium in die Mutterrolle, aber dies ist nicht ein Hauptproblem. Viele von ihnen kommen später wieder zum Tierarzt-Job zurück, wenn auch oft als Teilzeitangestellte. Eine grosse Anzahl steigt nach dem Studium gar nicht in die Praxis ein. Viele verlassen das Berufsfeld in den ersten fünf Jahren.
Eine falsche Berufswahl, Frustration, die Erkenntnis, dass Tierärztin ein harter Job ist, oder aber wenig Prestige und schlechte Entlöhnung werden als Gründe angegeben. Verglichen mit vielen anderen Studienabgängern verdient die Tierärztin am wenigsten, obwohl sie ein sehr anspruchsvolles Studium und Spezialausbildungen vorweisen muss. Oft wird auch die mangelnde Wertschätzung als Grund aufgeführt. Wenn Tiere trotz 24-Stunden-Einsatz und hochstehender Medizin sich nicht erholen und vielleicht sogar sterben, wird die Tierärztin gleich noch mitverantwortlich gemacht. Für viele ist dies eine sehr belastende Situation. Ganz nebenbei sind Nachtdienste und Sonntagsdienste selbstverständlich und führen in die soziale Isolation.
Wie gehen Sie diese Mangellage in Ihrer Tierklinik an?
Lösung haben wir keine generelle. Wir versuchen im Team, uns gegenseitig zu stützen und die zum Teil unmenschlichen Arbeitszeiten ertragbar zu machen. Ich selbst schiebe meine Pension vor mich her und arbeite Vollzeit weiter, wie viele meiner Kollegen. So können nicht mehr alle Spezialwünsche der Kunden berücksichtigt werden. Zeitwünsche für Besuche sind kaum mehr möglich. Auch müssen Wartezeiten in Kauf genommen werden, weil wir einfach keine Reserven mehr einbauen können. Somit hat ein Notfall andere Auswirkungen auf das Normalprogramm als früher. Ganz klar hat das auch Auswirkungen auf die Besoldung, die Löhne mussten nach oben angepasst werden.
Welche Zukunft prophezeien Sie den Tierhaltern, wenn sich in naher Zukunft keine Änderung abzeichnet?
Nutztierhalter werden die Situation am meisten spüren. Der Notfalldienst ist aktuell das Anspruchsvollste im Bereich der Organisation. Und gerade der Nutztierhalter ist darauf angewiesen. Wahrscheinlich werden die Honorare für dieses Angebot erhöht werden müssen. Da dies zu Situationen führen könnte, in denen das Tierwohl darunter zu leiden beginnt, müssen Lösungen mit dem Bauernverband gesucht werden. Gespräche sind am Laufen. Eventuell kommt eine Unterstützung durch den Bund über die Direktzahlungen oder andere neue Lösungen infrage.
Welche Lösungen sehen Sie generell zur Bewältigung dieser Mangellage?
Sofortmassnahmen wären Lockerungen im Arbeitsgesetz, dass zumindest solche, die freiwillig mehr Dienst auf sich nehmen können und wollen, dies auch tun dürfen. Weiter sind Preisaufschläge – besonders im Notfallbereich – unumgänglich. Abschaffung des Numerus clausus und Einführung eines Praktikums vor dem Studium, in dem die Eignung zum Tierarzt geprüft wird, wäre ein weiteres Instrument. Und: Einkommen aus Notfalleinsätzen sollten steuerfrei sein. Schliesslich fordern der Staat und die Gesellschaft einen hohen Standard im Bereich Tierschutz.
