Was Helen Rhyner-Luchsiger vom Betrieb Oberhaus im glarnischen Elm am Vormittag des 23. Januar erleben musste, klingt wie ein Alptraum: Während ihre Kinder draussen im Schnee spielen, sieht sie, wie sich zwei Wölfe bis auf rund 50 Meter nähern. Damit nicht genug: Während der eine Wolf zurückbleibt und beobachtet, geht der andere direkt auf ihren vierjährigen Sohn Sebastian zu. Vertreiben lässt sich der Wolf nicht. «Ich schrie, so laut ich konnte – eine unheimliche Angst stieg in mir auf», erzählt Rhyner-Luchsiger. «Zu unserem Entsetzen lief der Wolf zu ihm hinunter, er ging ihm hinterher.» Erst als sie ihren Sohn in den Armen gehalten habe, habe der Wolf aufgegeben und sei umgedreht.
«Das Kind wäre innert Minuten weg gewesen»
«Ich bin froh, ist es so glimpflich ausgegangen», sagte Biologe Marcel Züger am Nachmittag an eine Medienkonferenz auf dem Betrieb der Familie. «Die Chancen, dass es zu einem Angriff gekommen wäre, standen 50:50». Im Ausland hätten die meisten Angriffe auf Kinder solche im Alter von zwei bis sechs Jahren betroffen – und seien zum Teil auch tödlich verlaufen. Hätte sich der Wolf zum Angriff entschlossen, wäre er bei der kurzen Distanz in zwei Sekunden beim Kind gewesen, so Züger. «Das geht blitzschnell.» Möglichkeiten zum Eingreifen gebe es da nicht viele. Immerhin könne ein ausgewachsener Wolf ein 50 kg schweres Schaf einfach wegtragen. «Das Kind wäre innert Minuten weg gewesen», so die Einschätzung des Biologen. [IMG 2]
Mutter berichtet: «Unheimliche Angst in mir»
«Noch nie in meinem Leben hatte ich so grosse Angst, ich hatte Todesangst um unseren Sohn», sagt Helen Rhyner-Luchsiger. Sie wolle sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn sie mit den beiden Frauen zehn Minuten länger vor dem Stall geplaudert hätte. Auch der kleine Sebastian hat Schreckminuten erlebt, wie die Mutter schildert. Ihr Sohn habe zu ihr gesagt: «Der Wolf hat mir in die Augen geschaut. Sie sind gross und gelb, das ist ein böses Tier!»
Sie hoffe, dass Sebastian dank seines jungen Alters und seines kindlichen Gemüts keine Schäden davontrage, sagt Rhyner-Luchsiger. Und sie fragt sich, was nun geschehen müsse: «Muss ich jetzt mit dem Gewehr in den Stall, um mich und meine Kinder zu schützen? Dürfen die Kinder nicht mehr unbeschwert draussen spielen?»
Wildhüter im Ansitz
Der Kanton Glarus reagiert entsprechend und verfügt den Abschuss von zwei Wölfen im Abschussperimeter zwischen Engi und dem Waffenplatz Wichlen. Auf Anfrage der BauernZeitung sagte der Glarner Regierungsrat Thomas Tschudi, Vorsteher des Departements Bau und Umwelt, dass aktuell vier Wildhüter die Situation in der Region beobachten würden. Zwei von ihnen befänden sich bereits seit der Nacht auf Freitag im Ansitz auf die Raubtiere. Wie der Kanton Glarus in einer Mitteilung vom 24. Januar schreibt, sind in der Region seit Dezember 2024 mehrfach Wölfe in unmittelbarer Umgebung zu bewohntem oder stark frequentiertem Gebiet gesichtet worden.
Gruppe Wolf Schweiz kritisiert Stimmungsmache
Kritisiert wurde dieser Entscheid umgehend von der Gruppe Wolf Schweiz (GWS). Eine Vergrämung wäre die bessere Strategie gewesen, heisst es in einer noch am selben Tag verfassten Mitteilung. In der Region um Elm werde «seit einiger Zeit von Wolfsgegnern gezielt Stimmung gegen den Wolf gemacht und eine Gefahr heraufbeschworen.» So sei es nicht verwunderlich, dass die Bevölkerung bei einer Wolfsbegegnung mit «Angst statt mit Gelassenheit» reagiere. Für die GWS ist der Vorfall kein Anzeichen für eine Gefährdung der Sicherheit der Talbewohner: «Das Risiko, das von wildlebenden Wölfen für den Menschen ausgeht, ist so gering, dass es statistisch nicht erfasst werden kann.»
Neue Stufe der Eskalation
Für Marcel Züger ist mit der Begegnung in Elm eine neue Stufe der Eskalation erreicht. «Das beschriebene Verhalten ist ein klassisches Abklopfen», sagt er. In einer solchen Situation untersuchten Wölfe, ob es sich um eine potenzielle Beute handle. Um einen Angriff auszulösen, brauche es da nicht mehr viel. «Ein Kind, das erschrickt, schreit und rennt weg», sagt Züger. Genau dieses Verhalten könne in einem Raubtier den Beutetrieb auslösen. Ins Bild passten auch Beobachtungen von Anwohnern, wonach das Wild in den Tagen zuvor vermehrt aus dem Wald gekommen sei und die Nähe der Häuser gesucht habe. Auch die beiden Wölfe in Elm seien anfänglich einer Gemse nachgelaufen, die sich ins Dorf geflüchtet habe, berichtet Rhyner-Luchsiger.
«Der Mensch erscheint schwach und harmlos»
Züger verweist auf Fälle von Angriffen in den Niederlanden und in Italien. «Am Anfang stehen erste Übergriffe nach Jahrzehnten von Nichtmanagement», sagt er. Das Problem sei die schrittweise Gewöhnung der Wölfe an den Menschen. Am Anfang seien diese scheu, erlebten sie aber keine negativen Reaktionen, fühlten sie sich irgendwann ebenbürtig. Die nächste Stufe: «Der Mensch erscheint ihnen so schwach und harmlos, dass sie ihn als Beutetier zu betrachten beginnen.»
«Sie haben nie zugegeben, dass sie sich geirrt haben.»
Züger übte vor Ort in Elm harte Kritik an den Umweltschutzorganisationen. Diese hätten sich über die Jahre hartnäckig geweigert, die von der betroffenen Bevölkerung beobachtete Veränderung im Verhalten der Wölfe anzuerkennen. «Am Anfang hiess es, der Wolf sei nachtaktiv, menschenscheu, springe nicht, werde von einem Herdenschutzhund abgeschreckt, greife kein Grossvieh an», erinnert Züger. Schritt für Schritt habe sich das alles geändert – aber: «Sie haben nie zugegeben, dass sie sich geirrt haben.»
Strategie gegen Risikowölfe?
Nun werde die Erfahrung der Betroffenen wieder nicht ernst genommen. «Die nächste Stufe sind Angriffe auf Menschen», ist Züger überzeugt. Er plädiert deshalb für eine Strategie, die gezielt Risikowölfe ins Visier nimmt. Eine solche werde im österreichischen Bundesland Kärnten praktiziert: Nähere sich dort ein Wolf Menschen auf 200 Meter oder weniger, gelte dies als Problemverhalten und das Tier werde – nach zwei Vergrämungsversuchen – zum Abschuss freigegeben.
Kind verarbeitet Schock mit Knurrgeräuschen
Bei den Betroffenen sitzt der Schock nach dem Erlebten immer noch tief. «Es ist noch zu nahe», meint Helen Rhyner-Luchsiger. «Ich habe die Kinder immer draussen spielen lassen», sagt sie. Jetzt müsse sie sich überlegen, ob sie die 200 Meter in den «Gaden» noch unbeaufsichtigt zurücklegen dürften. Tief betroffen ist auch Barbara Bäuerle-Rhyner. Sie war zum Zeitpunkt des Geschehens auf dem Hof – ihre Stimme ist am Freitag immer noch heiser vom vielen Schreien am Vortag.
Der vierjährige Bauernbub habe den Alltag mit den Tieren genossen, sei gerne in den Laufhof gegangen, um dort Kälber zu streicheln, erzählt sie in einem Text, den sie noch am selben Tag verfasst und mit Bekannten geteilt hat. «Er verarbeitet den Schock, indem er sich knurrende Verteidigungsversuche gegen Wölfe aneignet.» Alle Beteiligten versuchen noch, die Situation zu erfassen. «Unglaubliche Machtlosigkeit macht sich beim zitternden Verarbeiten des eben Erlebten breit.»


